Eine nicht umerziehbare Frau im Köln, Freies Werkstatt-Theater

Ein Denkmal für Anna Politkowskaja

Graue Betonwände, die nach hinten aufeinander zulaufen, verengen die ohnehin nicht allzu große Bühne im Freien Werkstatt Theater Köln. Sie begrenzen das karge, fast wie eine Gefängniszelle wirkende Büro, in dem die Schauspielerin Fiona Metscher an einem winzig kleinen Tisch auf einem grauen Stuhl sitzt. Auch der Bühnenboden ist grau; ebenso die Kleidung der Schauspielerin. Grau wie die Welt in Tschetschenien. Man denke immer, Asien sei weiß, heißt es im Text des italienischen Dramatikers Stefano Massini, aber in Tschetschenien sei es grau, oft gar dunkelgrau bis schwarz. Staubbedeckt von Elend und Explosionen.

Fiona Metscher ist Anna Politkowskaja, die „Ikone des investigativen Journalismus in Russland“, wie der SPIEGEL sie einmal bezeichnete. Sie war eine der wenigen Journalistinnen, die unparteiisch und damit im Widerspruch zur offiziellen Darstellung vom Krieg und von der Gewalt in Tschetschenien und von der Korruption im Oberkommando der russischen Streitkräfte und im russischen Verteidigungsministerium berichtete. Dabei widerstand sie Gewaltandrohungen sowie lebensgefährlichen physischen und psychischen Einschüchterungsversuchen. Stefano Massini hat der Journalistin im Jahre 2007, ein knappes Jahr nach ihrer Ermordung, in Würdigung ihres mutigen Einsatzes ein „Theater-Memorandum“ gewidmet, das Auszüge aus ihren Reportagen, Interviews und Tagebucheinträgen zu einem bestürzenden Monolog verdichtet. Er bietet tiefe Einblicke in ein postsowjetisches Unrechtssystem, das sich im Hinblick auf Repression und Gewalt von seinem sowjetischen Vorgänger-Regime kaum unterscheidet.

Zu Beginn des Abends ordnet Politkowskaja ihre Arbeit ein: „Ich schreibe nie Kommentare. Ich beschränke mich darauf, Fakten zu berichten. Das scheint das einfachste zu sein, ist aber das Schwerste. Man zahlt einen hohen Preis.“ Fiona Metscher berichtet ein paar Fakten aus der tschetschenischen Geschichte: Seit drei Jahrtausenden kämpfen die rebellischen, stolzen Menschen dieses Landstrichs gegen die Herren aus dem Westen, aus dem europäisch geprägten Russland. Stalin ließ die Tschetschenen deportieren; erst spät durften sie in ihre Heimat zurückkehren. Als Tschetschenien im Jahre 1991 (wie viele andere Regionen der ehemaligen Sowjetunion) die Unabhängigkeit von Russland erklärte, brach ein grausamer Krieg aus. Den strategischen Wert der Region für die Russen spricht Metscher eher indirekt an: Es ist die Gasleitung, die quer durch das Land verläuft. Mit Kreppband markiert Metscher die Pipeline und den Fluss Terek, an den sich das Land schmiegt. Die Bänder engen den Bewegungsspielraum auf der Bühne ein, aber Metscher beschriftet sie mit Forderungen nach Freiheit, auch nach der Freiheit des Wortes. Und sie berichtet von einer ersten Gräueltat: Aus einem LKW wird der Kopf eines Menschen gekippt und an der Gasleitung zur Schau gestellt. Dissidentenschicksal…

Sie erzählt vom Aufstieg des zahlreicher Menschenrechtsverletzungen beschuldigten, skrupellosen Ramsan Kadyrow zum Staatspräsidenten. Sie berichtet von den russischen „Säuberungseinheiten“, die nach Tschetschenien geschickt wurden und die im Wesentlichen aus Kriminellen, Abenteurern und Kindersoldaten bestanden. In Auszügen gibt sie ein Interview von Politkowskaja mit einem 16jährigen Soldaten wieder. Seine Antworten erscheinen gefühllos, dumpfbackig, brutal, rassistisch - die täglichen Morde auch an der Zivilbevölkerung, zu denen er beauftragt ist, rechtfertigt er mit der Aussage, es treffe doch keine Menschen, sondern nur Tschetschenen. Später interviewt Politkowskaja einen korrupten, menschenverachtenden Oberst der russischen Armee, der jeden moralischen Kompass verloren hat und ihr wie selbstverständlich diktieren möchte, was sie in der „Nowaja Gazeta“ zu schreiben habe. Doch die „nicht umerziehbare Frau“ ist unbestechlich - „Mit welchem Recht veröffentlicht diese Frau meine Antworten so, wie ich sie gegeben habe?“, soll Kadyrow sich einmal beschwert haben.

Besonders beeindruckend ist Fiona Metscher immer dann, wenn sie in direkter Rede die Antworten ihrer abgestumpften oder offen kriminellen Interviewpartner wiedergibt: schroff, unverblümt, in erschreckender Selbstverständlichkeit über ihre Verletzungen jeglicher Rechtsvorschriften und Moralvorstellungen sprechend. Metscher und ihre Regisseurin Inka Neubert haben sich für eine herbe Interpretation der Rolle der Politkowskaja entschieden; die Schauspielerin überzeugt mit einer gestochen klaren, manchmal lakonischen und fast immer überaus sachlichen Sprache, lässt aber kaum Empathie für die Opfer der von ihr geschilderten Verbrechen erkennen. Die Begegnung mit den noch herberen, brutalen, und wirklich komplett empathielosen Militärs macht deutlich, dass solche Härte, vielleicht gar Verkapselung notwendig ist, um den Herausforderungen als Kriegsberichterstatterin und Investigativ-Journalistin gerecht werden zu können: Die Härte der Journalistin macht solche Szenen erst glaubhaft. Doch die notwendige harte Schale droht zu brechen, als Metscher-Politkowskaja von ihrer eigenen „Schuld“ berichtet: Dorfbewohner, deren Aussagen Politkowskaja in einer Zeitung zitiert hatte, werden kurz nach Erscheinen des Artikels ermordet.

Metscher berichtet von weiteren Anschlägen: auf das einzige Krankenhaus in Grosny, auf den Regierungspalast. Tschetschenen attackieren Tschetschenen. Sie interviewt tschetschenische Terroristen während der blutigen Geiselnahme auf das Musical-Theater Dubrowka in Moskau, sie besichtigt die zerstörte Schule im nordossetischen Beslan, in der von kaukasischen Rebellen mehr als 1100 Kinder als Geiseln genommen wurden. Metschers Darstellung gewinnt an Suggestivkraft, man spürt jetzt die Wut, die Politkowskaja angesichts solcher Vorgänge empfunden haben muss - und ihre Ratlosigkeit: „Man müsste Stellung beziehen“, sagt sie nun. Aber für wen? Für die unterdrückten Menschen, die 1127 Kinder als Geiseln nahmen? Oder für die russischen Soldaten, die die Geiselnahme beendeten, indem sie Flammenwerfer auf die Kinder richteten?

Es ist ein düsteres Bild, das diese Vorgänge von unserer Welt zeichnen - Vorgänge, die so weit entfernt von uns scheinen und an die wir uns doch alle noch erinnern können. Es ist erschreckend, zu welchen Taten Menschen fähig sind, wie brüchig unsere Moral ist. Massinis Text und Inka Neuberts Aufführung vom Mannheimer Theaterhaus G7, die jetzt in Köln gastierte, ist aber auch ein eindrucksvolles Plädoyer für die Pressefreiheit, für mutige Journalisten, die sich auch von massiver Bedrohung von Leib und Leben nicht einschüchtern lassen. Anna Politkowskaja wusste: „Propaganda“ gegen den Staat wird mit dem Tod bestraft.

Anna Politkowskaja wurde am 7. Oktober 2006 auf der Rückkehr vom Einkauf im Aufzug ihres Moskauer Wohnhauses erschossen. Sie starb an Wladimir Putins 54. Geburtstag. Fiona Metscher hatte zu Beginn des Abends den einstigen Kreml-Chefideologen und Putin-Vertrauten Wladislaw Surkow zitiert, der von der Notwendigkeit gesprochen hatte, den Staat von „allen nicht umerziehbaren Menschen zu säubern.“