„Eine Grenze hat Tyrannenmacht.“
Die Premiere von Wilhelm Tell war für den 16. Mai angesetzt. Dann kam Corona und veränderte alles, auch im Theater. Man musste sich eine Alternative überlegen, wie man mit deutlich weniger Publikum eine daher ganz neue Interpretation des Werkes auf die Bühne bringen könnte.
Für den Juni 2020 brachte das Theater Krefeld/Mönchengladbach einen Sonderspielplan heraus, der auch unter Corona-Bedingungen durchzuführen ist.
Unter dem Titel „Kopfkino. Wilhelm Tell“ können im Großen Mönchengladbacher Haus nur wenige Zuschauer den Abend verfolgen. Große Sicherheitsabstände zwischen den besetzten Plätzen und freie Reihen - jede 2. Reihe ist frei - sorgen für die notwendige Distanz. Die Bühne weist nur elf schwarze Tische und Stühle auf, die in einem Halbkreis stehen. Namensschilder geben an, welche Rolle an welchem Platz gelesen wird. Lichtkegel beleuchten die Tische bzw. die Schauspieler auf der ansonsten schwarzen Bühne. Die Akteure, alle mit Maske, treten nacheinander auf und desinfizieren zunächst die Hände. Dann nehmen sie Platz. Dazu hört man eine locker-leichte Musik in einer Endlosschleife.
Friedrich Schillers Stück über den revolutionären Freiheitskampf der Schweizer Eidgenossen wird in einer sehr gekürzten und stark bearbeiteten Version - bekannte Zitate aus anderen Werken wie auch diverse Anmerkungen aus der aktuellen Nachhaltigkeitsbewegung ergänzen den ursprünglichen Text - gespielt. Der Abend dauert nur 80 Minuten. Bedarf Schillers bildhafte Sprache, die so anschaulich Situationen und Gefühle beschreibt, dieser Ergänzungen? Zum Teil mag es gerechtfertigt sein. Wenn Rafaat Daboul, ein 2016 nach Deutschland geflüchteter junger Syrer, in seiner Rede als Baumgarten, der aus Notwehr zum Mörder wurde und nun vor den Schergen des Reichvogts fliehen muss, auf einmal in seiner Aufregung vermutlich in seine Muttersprache verfällt, kann man das als sinnvollen Bezug zur Flüchtlingsproblematik und zur Frage nach der Identität einer Person sehen. Was wiederum einen Bogen zu Schiller schlägt.
Die Schauspieler lesen ihre Rollen vom Blatt ab. Jedoch gibt es hier durchaus Unterschiede. Adrian Linke spielt über das Lesen hinaus überzeugend den rebellischen Werner Stauffacher. Ebenso intensiv gibt Henning Kallweit einen emotionalen, bewegenden Arnold vom Melchtal. Esther Keil ist eine großartige Schauspielerin, auch sie liest und spielt ihre jeweiligen Rollen (Gertrud Stauffacher/Söldnerin Mechthild/Bäuerin Armgard). Bruno Winzen gibt den Erzähler, der auch die Regieanweisungen liest. Wilhelm Tell wird von Paul Steinbach gespielt bzw. gelesen. So ganz glaubt man diesem schüchternen Mann seine Mutation zum aktiven Revolutionär, der den Tyrannen in der hohlen Gasse bei Küßnacht tötet, nicht.
Was nimmt man als Zuschauer von diesem ungewöhnlichen Abend mit?
Es ist sicherlich eine gute Idee, Wilhelm Tell zumindest auf eine minimalistische Weise einem kleineren Publikum nahe zu bringen. Das Ensemble - zu nennen wären noch: Nele Jung, Michael Ophelders, Ronny Tomiska, Michael Grosse und Jannike Schubert - überzeugt zum großen Teil auch in dieser szenischen Lesung. Insofern genießt man „lebendiges Theater“. Auf die häufig nur störende Musik, die nur selten eine bestimmte Stimmung verstärkt, hätte man verzichten können. Auch die allzu heftige Bemühung um Aktualisierung des Themas „Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt“ wäre nicht nötig gewesen. Steht nun mal in diesem Werk der Freiheitskampf Schweizer Bergbauern gegen die Unterdrückung durch die Habsburger im Zentrum. Und das sollte als Thema reichen.