Alles, was zum Fall führt
Die Theater dürfen wieder öffnen nach dem langen coronesken Shutdown. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Schlosstheater Moers, das neben dem Theater Oberhausen von allen NRW-Schauspielhäusern den kreativsten und flexibelsten Umgang mit der Krise zeigte, unter den ersten ist, die wieder eine analoge Premiere feiern. Wunderlicherweise haben sich die Theaterleute ausgerechnet den kleinsten Spielort für ihre erste Premiere ausgesucht: die Kapelle an der Rheinberger Straße, die schon unter normalen Bedingungen nur knapp 50 Zuschauer fasst. Coronakompatibel gemacht, bleiben 12 Plätze. Aber schnell begreift man: Wo, wenn nicht hier, hätte diese Inszenierung stattfinden sollen? In Ulrich Grebs Inszenierung wird alles zu Metapher und/oder Bebilderung, auch die Spielstätte selbst.
Greb inszeniert Lenz, Georg Büchners nachgelassenes Novellen-Fragment über die Schizophrenie des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Lenz flüchtet sich auf Anraten seines Freundes, des Arztes Christoph Kaufmann, ins „Gebirg‘“, zu Pfarrer Oberlin, um in der Einsamkeit des elsässischen Dorfes Waldersbach (in der Novelle Waldbach genannt) zur Ruhe zu finden. Oberlin, der sich rührend um Lenz kümmert, wurzelt noch in einem festgefügten Weltbild; er findet Halt im christlichen Glauben. Lenz, so lautet zumindest eine der vielen Interpretationen der Literaturwissenschaft, gehört zu einer neuen Generation: An die alten christlich-mythologischen Denkmodelle vermag er nicht mehr zu glauben, doch kommt er ebenso wenig mit dem neu entstehenden rationalistischen Weltbild zurecht. In ihm tobt ein Kampf zwischen Glaube und Atheismus, zusätzlich befeuert von übersinnlich-mythologischen Vorstellungen, mit denen der Leser (und der Moerser Theaterzuschauer) sogleich konfrontiert wird: Schon auf dem Weg nach Waldbach wird Lenz im aufkommenden Sturm wieder von der sein Gemüt bedrohenden mythischen Gedankenwelt eingeholt. Lenz fehlt ein Lebensmodell, das ihm Sicherheit gibt.
Roman Mucha spielt diesen Lenz auch physisch zwischen Halt und permanentem Schwanken. Während der gesamten 90minütigen Vorstellung hängt sein Lenz an einem schwingenden, elastischen Seil. Es gibt ihm Bewegungsfreiheit, ermöglicht akrobatische Verrenkungen (einmal schwingt sich Mucha sogar in die obere Etage der Kapelle auf, wo eigens für diese Szene zwei mögliche weitere Zuschauerplätze freigeblieben sind). Doch eben diese Bewegungsfreiheit ist durch die Länge des Seils eingeschränkt; manchmal zappelt Lenz an der Schnur wie eine Marionette. Sein Schicksal selbst zu bestimmen, wird ihm nicht gelingen; immer wieder wird er von seinen Emotionen und seinen depressiven Schüben hin und her geworfen. Er kreist am Seil wie im Kettenkarussell, ohne irgendwo anzukommen. Es war „ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“, heißt es bei Büchner in einer eingängigen Beschreibung der Unordnung von Lenzens Welt - an diesem Seil wäre es Mucha möglich, sich auf dem Kopf fortzubewegen.
Im Sturm kommt es Lenz vor, als dehne er sich aus und läge „über der Erde… es war eine Lust, die ihm wehe tat“. Nahezu waagerecht in der Luft liegend, versucht Mucha sein Revier zu markieren: Mit Kreide malt er ein Rechteck auf den Fußboden, das er später mit Kreisen und Kreuzen füllen wird, einmal auch mit dem Gesicht eines verstorbenen Mädchens, dessen ihm unbekanntem Elternpaar er einen merkwürdigen Besuch abstattet und dessen Anblick ihn zutiefst verstört. Immer wieder zeichnet Lenz Symbole in das Rechteck - und wischt sie wieder aus, denn Orientierung geben sie ihm nicht.
Im ehemaligen Altarraum der Moerser Kapelle wird Muchas Auftritt von der Percussionistin Mariá Portugal begleitet. Ihr Soundtrack und Gesang bilden die Gefühlsschwankungen des Protagonisten ab und verstärken nicht nur die Wirkung von Muchas eindrucksvoller Performance, sondern lassen die Aufführung in ihren besten Momenten sogar zu einer Art Wortkonzert werden. Kontrastiert wird Lenzens Gefühlsverwirrung dagegen durch aus dem Off eingespielte Zitate aus Ludwig Wittgensteins „Tractatus Logico Philosophicus“ - Sie wissen schon: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Es ist ein Text, von dem Wittgenstein wohl behaupten würde, er könne einem geistig verwirrten Menschen wie Lenz, für den die Welt alles ist, was zum (seinem) Fall führt, Orientierung bieten: Der Mathematiker unter den Philosophen setzt gedanklichen Verwirrungen knappe, präzise Definitionen und eine kalte, unempathische Logik entgegen - für Lenz so wenig hilfreich wie Muchas geometrische Zeichnungen. „Die Form ist die Möglichkeit der Struktur“, heißt einer der Merksätze von Wittgenstein. Die Kapitelchen, in die Mucha seine Performance unterteilt, lässt er häufig mit einem „konsequent“ oder „inkonsequent“ enden. Doch so sehr sich Lenz bemühen mag, eine Form zu finden - es gelingt ihm nicht, Struktur in seine Gedankenwelt zu bringen.
Lenz schwankt hin und her zwischen Euphorie und Selbstzweifel, zwischen Unsicherheit und (seltenem) Wohlgefühl. In der Beschreibung der Ursachen und Umstände einer Depression wirkt Büchners Text erstaunlich modern - wissend vor allem. Dunkelheit, Leistungsdruck, das Einfordern von Zielen wirken bedrohlich auf die Betroffenen. Im christlichen Glauben müsse man Halt finden, hat Lenz gelernt. Das wäre die Anpassung an die Erwartungen des gesellschaftlichen Umfelds. Doch Lenz schwankt zwischen einem übersinnlichem, mystischem Glaubensmodell und eher atheistischen Vorstellungen. Seine mystisches, übersinnliches Religionsverständnis droht sogar seinen väterlichen Freund Oberlin zu verärgern. Lenz bittet Oberlin, in dessen Kirche eine Predigt halten zu dürfen. Lenz beruhigt diese Aussicht zunächst. Dann wieder hört er Stimmen, dann wieder gerät er in Ekstase wie in der erwähnten Episode, in der er auf den Leichnam des verstorbenen Mädchens trifft. Er versteigt sich in die Rolle des Erlösers; wieder und wieder beschwört er die Tote: „Steh auf und wandle!“ - Die Friedhofskapelle passt als Spielort ideal zu diesem religiösen Wahn, aber ihre Fenster, ihre Wände sind verhangen mit schwarzen Planen und Platten. Auch die Kirche bietet keine Erlösung. Lenz war es „manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“? - Er stellt die Welt so manches Mal auf den Kopf. Doch: „Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich“, schreibt Paul Celan.
„Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt“, postuliert Ludwig Wittgenstein unbarmherzig. Die Welt von Lenz geht weit über bestehende Sachverhalte hinaus. „Die Grenzen meiner Sprache bilden die Grenzen meiner Welt“? - Trotz Georg Büchners Sprachgewalt gibt es Ereignisse in der Welt von Lenz, die er mit Sprache nicht benennen kann. Und so baumelt Roman Mucha denn am Seil, schwingt sich auf die erste Etage, fällt physisch auf den Boden und mental in Ekstase und bleibt die Marionette seiner psychischen Störung. Nach einem Suizidversuch reist Lenz am Ende zurück nach Straßburg. „Er fühlte keine Angst mehr… sein Dasein war ihm eine notwendige Last. - So lebte er hin.“
Der historische Lenz tauchte im folgenden Jahr in Riga auf, später dann in St. Petersburg und Moskau. Sein mentaler und psychischer Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Im Juni 1792 wurde er in Moskau auf offener Straße tot aufgefunden. Er wurde 41 Jahre alt. Die Aufführung zitiert noch einmal Ludwig Wittgensteins „Tractatus Logico“: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems”. Und: “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.”