Persönlichkeit und Macht
Meinrad Hofmann ist Regierungschef eines Staates und seine Frau Ebba „hält ihm den Rücken frei“, ganz klischeehaft und gängigem Rollenverhalten entsprechend. Doch Meinrad steckt in einer Krise, er hat Fehler gemacht. Welche konkret, das erfahren wir nicht. Aber es gibt Kritik an ihm und seine Führungsposition scheint zu wackeln. Aber gerade, als er sich auf einem Parteitag rechtfertigen soll, seine Stellung behaupten muss, bricht die Krise aus: Er kann und will sich seinen Widersachern nicht stellen. Und so ist es an Ebba, seine Sache zu verteidigen, sein Sprachrohr zu sein. Gemeinsam mit Spin-Doktor Dieter Seeger feilt sie an einer Verteidigungsstrategie.
Doch auch an Ebba zehren das Ringen um Machterhalt, die permanent erzwungenen Demonstrationen von Stärke und Selbstbewusstsein. Und so taucht zur Unzeit gerade jetzt die Vision des Kindes auf, das sie einst durch eine Fehlgeburt verlor. Dass sie mit Dieter gezeugt hat und von dem Meinrad nichts weiß. Diese Vision erinnert sie an verdrängte Schuld und sie stellt Fragen, denen sich Ebba nie gestellt hat.
Große Probleme, tiefgreifende Fragen türmen sich wie unheilvolle Wolkenberge über den Figuren in Lot Vekemans Stück Momentum auf. Und so gibt es zwischen den Protagonisten viel zu erörtern, zu besprechen und bisweilen auch schier unendlich durchzukauen. Das zieht sich ziemlich in die Länge, denn an dramatischen Steigerungen, die aus den fortdauernden Debatten entstehen könnten, gebricht es leider. Es beschleicht einen das Gefühl, dass Vekemans nicht Menschen mit Ängsten und tiefgreifenden Problemen erschaffen hat, sondern Probleme personifiziert. Das kann das Publikum sehr fern vom Geschehen auf der Bühne halten und „Mitleiden“ im Lessingschen Sinne verhindern.
Regisseurin Tanja Weidner versucht dagegen zu steuern, indem sie den Handelnden ein Höchstmaß an Empathie entgegen bringt, sie so menschlich wie möglich agieren lässt. Und das bewährte Borchert-Ensemble gibt alles. Jürgen Lorenzen ist der gebrochene Meinrad und in Perfektion authentisch. Ivana Langmajer als Ebba kämpft mit aller Kraft um sich selbst, ihre Würde, aber auch um ihre Rolle als Frau. Rosana Cleve als ungeborener Felix ist überirdisch zart und unerbittlicher Fragesteller zugleich und Markus Hennes als Dieter zeigt perfekt die Fallstricke eines ungeliebten, aber anscheinend notwendigen Berufsstandes. Florian Bender glänzt als letztlich desillusionierter Redenschreiber. Und doch bleiben die Figuren seltsam fern. Das symbolisieren auch die Coronabedingt getragenen Protektoren, die eine Annäherung an die Protagonisten kaum möglich machen.
Ebba und Meinrad versuchen, ihre Probleme medikamentös zu bekämpfen - Ebba mit Amphetaminen, Meinrad mit Antidepressiva. Ebba fällt aufgrund einer Überdosis letztlich ins Koma. Und sie erwacht als Dea ex machina, fordert von Meinrad für sich die Rolle als Spitzenkandidaten - eine Klimax, die gelinde gesagt überrascht und erstaunt, sollte man doch meinen, dass alle schlicht „die Schnauze voll“ hätten vom Spiel um die Macht.
Das Wolfgang-Borchert-Theater stemmt sich mutig gegen die Corona-Pandemie. Dem Team gelingt ein versöhnliches Saisonende, wenn auch Vekemans Momentum in keiner Weise heranreicht an ihr Gift. Eine Ehegeschichte, das Borchert-Intendant Meinhard Zanger eindrücklich in Szene setzte.