Die ganz legale Abschaffung unserer Demokratie
Da kommt einer, der begeistern kann. Der neuen Schwung in die Politik bringt. Der Hoffnung gibt. Der Krise kann. Der Tag seiner Wahl zum Kanzler ist einer der besten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Langsam beginnt er das Land umzubauen. Er schafft die längst überfällige Steuerreform, investiert massiv in Bildung und Infrastruktur. Seinem Wahlvolk, aber auch politischen Gegnern gegenüber schlägt er stets versöhnliche Töne an. Die Demokratie ist ihm eine Herzensangelegenheit.
Zunächst verändert er die Machtstrukturen beim Bundesverfassungsgericht. Dann schränkt er die Kompetenzen des Bundesrates ebenso wie die wenigen Rechte der Bundespräsidentin ein. Vergnügt kommentiert er, wie sich die Opposition selbst zerlegt und die Parteienlandschaft zersplittert: Vielfalt und Pluralismus seien ja immer schön. Diese Zersplitterung erfordert eine - längst vom Verfassungsgericht angemahnte - Reform des Wahlrechts: Die wachsende Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien führt zur Selbstlähmung eines völlig überdimensionierten Parlaments. Mit dem neuen System wird die Zahl der Abgeordneten auf eine vernünftige Zahl begrenzt.
Der Regierungspartei beschert das neue Wahlrecht sichere Mehrheiten. Der Volkskanzler hält nun alle Macht in Händen. Die Opposition wird angehört, aber geschickt ausgekontert - erst argumentativ, später mit Gesetzesänderungen. Den Umbau des Landes in eine Quasi-Diktatur bewerkstelligt der „Volkskanzler“, ohne jemals gegen die Gesetze oder die Verfassung der Bundesrepublik zu verstoßen.
Beim Asphalt Festival am Düsseldorfer Schwanenspiegel folgt man diesem Szenario so ungläubig wie gebannt. Man kennt solche Vorgänge aus den Nachrichten: Die Parallelen zu den politischen Entwicklungen in Polen, Ungarn oder der Türkei, zu den augenfälligen Bestrebungen eines Donald Trump in den USA sind offensichtlich. Aber ist so etwas in Deutschland möglich, in unserem Land mit seiner gefestigten Demokratie, mit seiner klaren Trennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative? - Der Jurist, Schriftsteller und Journalist Maximilian Steinbeis hat in einem Essay für die Süddeutsche Zeitung, der in voller Länge auch in seinem „Verfassungsblog“ nachzulesen ist (https://verfassungsblog.de/ein-volkskanzler/) nachgewiesen, dass mit Geschick und Intelligenz eine Unterminierung unserer Verfassungsorgane und eine Umwandlung der deutschen Muster-Demokratie in ein System mit diktatorischen Grundzügen möglich ist, ohne bestehende Rechtsnormen und Gesetze zu brechen. „Ein Volkskanzler“, heißt Steinbeis‘ Artikel. Bereits 1934 erschien eine Hymne unter ähnlichem Titel („Der Volkskanzler“). Sie war dem Kanzler des 1000jährigen Reichs gewidmet, der ein Jahr zuvor die Macht übernommen hatte.
Steinbeis‘ Essay schaffte es auf die Tagesordnung einer Konferenz besorgter Landesjustizminister. Er sorgte für Aufregung bis in höchste Politikkreise und Verblüffung beim Asphalt-Publikum. Die Hamburger Schauspielerin Ruth Marie Kröger präsentiert das so vernünftige, so logische und daher so gruselige Gedankenkonstrukt als Uraufführung bei Asphalt auf See. In lockerem Parlando, wie selbstverständlich berichtet sie von den komplexen Entwicklungen, die ein charismatischer, anfänglich so volksnaher Politiker anstößt. Da kommt einer, der die komplizierte Politik leicht macht, der Lösungen anbietet - und der, wenn es kompliziert und schwierig wird, diese Komplikationen und Schwierigkeiten mit unwiderstehlicher Logik und Eleganz aus dem Weg zu schaffen in der Lage ist. Die freie Presse bejubelt das zunächst als „große Staatskunst“. Ruth Marie Kröger nimmt die atmosphärische Struktur des Texts kongenial auf und vermag die Leichtigkeit und Eleganz dieser Politik in ihrem Vortrag zu vermitteln. Elegant sind auch die Zwischentöne, als klar wird, dass da ein rechter (oder linker?) Populist die Demokratie kapert: Ironisch wird auf die vergeblichen Proteste der aufgewachten oppositionellen Bevölkerung eingegangen, die sich immerhin zu Kundgebungen, Mahnwachen und Demonstrationen aufschwingt. Man glaubt es kaum, aber in der vom Schreiber dieser Zeilen besuchten Aufführung zieht tatsächlich exakt in diesem Moment ein Demonstrationszug am Schwanenspiegel vorüber. „Freiheit“ schallt es von der Haroldstraße herüber. Die zufällige Demo wirkt wie bestellt, doch für den von Steinbeis beschriebenen Staat kommt sie zu spät.
Die Demo bringt Ruth Marie Kröger für einen kurzen Moment aus dem Konzept. Dabei ist sie nur eine dritte „Abwechslung“ für das Publikum, dem das Produktions-Team den anspruchsvollen, komplexen Text offenbar nicht ohne eingestreute Erholungspausen zumuten wollte. Zur Demo wird ein „Wohlfühllied“ eingestreut - Mick Jaggers „Under My Thumb“. Ein anders Mal erzählt Kröger einen den meisten Zuschauern vermutlich bekannten endlosen Witz, der etwas unverbunden zum Rest des Geschehens bleibt. Vielleicht hat man den Text für zu spröde gehalten, als dass er das Publikum über vierzig Minuten fesseln könnte. Doch sollte man die Menschen nicht unterschätzen: Maximilian Steinbeis‘ Text führt auf erschreckende Weise vor, wie ein charismatischer Politiker mit einem geschickten Technokraten-Team im Hintergrund sein Herrschaftswissen einsetzen kann, um ganz legal die demokratische Struktur des Staates auszuhöhlen. Das ist ungeheuer spannend, und die Zuschauer, mit denen der Unterzeichner anschließend sprach, waren sich einig: Die Aufführung wurde zu einem Höhepunkt des gesamten, wie in jedem Jahr sehr vielseitigen Festivals. Und alle hatten begriffen: Niemals darf man sich in Sicherheit wiegen. Unsere demokratischen Werte muss man hüten wie seinen Augapfel; man muss bereit sein, für sie zu kämpfen, immer und allerorten.