Wütend, rasend, verzweifelt, dem Wahnsinn nahe
Johan Simons erklärte einmal, was ihn am Lear interessiert: „Leben und Tod. Dass der Mensch mehr leiden muss, als er verdient.“
„King Lear“, ein Stück auch über das schwindende Vertrauen in den Staat, über eine Zeit der Unsicherheit. Eine gute Wahl in Corona-Zeiten, wo vieles, was man für absolut normal und selbstverständlich hielt, nicht mehr eine sichere Größe ist, wo man nicht mehr alles unter Kontrolle hat.
Johannes Schütz hat die Bühne geteilt. Vorne eine blanke Spielfläche, nur ein großer Erdhügel ist zu sehen, Symbol für Lears Königreich. Eine weiße Wand mit verschieden großen Durchblicken trennt im hinteren Bereich einen nüchtern gehaltenen, büroähnlichen Rum ab, in dem die Schauspieler auf ihren Auftritt warten. Eine rotierende Kamera projiziert die Szenerie im Hintergrund auf die Wand. Zuweilen sind auch die Akteure auf der Vorderbühne in Großaufnahme auf der Wand zu sehen. Ein kluger Handgriff in Corona-Zeiten, wo auf Abstand zu achten ist. Im Saal des großen Hauses sitzen auch nur 170 Zuschauer.
Pierre Bokma spielt den alten König, der sein Reich zwischen seinen Töchtern aufteilen und die Macht abgeben will, überragend.
Wie ist dieser Lear - als Vater und König - in dieser Inszenierung zu sehen? Bokma beschreibt ihn in einem Interview im Programmheft als jemand, der sehr wohl weiß, dass er seinen Töchtern kein guter Vater war, aber dennoch Liebe von ihnen erwartet. Wobei er von den beiden älteren Töchtern, gespielt von Männern (Goneril von Mourad Baaiz, Regan von Michael Lippold), die Quittung in Form von einem herzlosen, selbstsüchtigen Verhalten bekommt. Zu Beginn des Abends erklärt Lear in einem Monolog, wie es weitergehen soll: „Wir verkünden nun die Mitgift unseren Töchtern. Welche liebt mich am meisten von euch?“ Goneril und Regan locken zunächst mit entsprechenden Lippenbekenntnissen, während die Jüngste, Cordelia (Anna Drexler spielt sie äußerst beeindruckend, in einer zweiten Rolle gibt sie, ebenfalls sehr gut, den Narren), sagt. „Das Herz passt mir nicht in den Mund. Ich liebe euch so wie ich muss.“ Worauf Lear sie verstößt und mittellos an den König von Frankreich (Ann Göbel) verheiratet.
Bald jedoch muss er erkennen, welchen Irrtum er begangen hat. Schmerzlich die Erfahrung, wie es ist, ohne Macht zu leben. Wütend, rasend, verzweifelt, dem Wahnsinn nahe, findet er sich auf der Heide wieder, in einem großen Sturm, eindrucksvoll durch Licht- und Akustikelemente dargestellt. Die Macht hat er aufgegeben, jetzt herrscht nur noch Leere. Nur sein Narr ist bei ihm.
Auch Graf Glocester, ein Mitglied des Hofes von Lear, lässt sich von seinem illegitimen Sohn Edmund (Patrick Berg) täuschen, der seinen Halbbruder Edgar (Konstantin Bühler) verleumdet. Glocester (hervorragend. Steven Scharf) erkennt erst nach leidvoller Erfahrung die Welt, wie sie ist.
Anna Drexlers Narr ist wie ein Gegenpol zu Lear zu sehen. Ein starkes Band bindet die beiden. Drexler sagt dazu: „Der Narr ist Cordelia in entfesselter Gestalt.“ Wie es einem Narren zusteht, darf er alles freimütig kommentieren. So sagt er zu Lear: „Du hättest auch weise werden müssen, nicht alt.“ Drexler spielt erfrischend temperamentvoll auf. Ein wohltuender Kontrast zu dem oft eher statischen Spiel.
Der dreistündige Abend besticht durch eine alte Geschichte, die äußerst spannend und neu erzählt wird - durch ein hervorragendes Ensemble (zu nennen ist noch Stefan Hunstein als Oswald, Gonerils Haushofmeister), durch ein klug überlegtes Bühnenbild und durch eine spannende Kameraführung, die eindrucksvolle Bilder vermittelt.
Zu Recht langer Applaus und zahlreiche Bravorufe.