Ein Shakespeare-Exorzismus
Auch diese Geschichte wird in Fabian Lettows und Mirjam Schmucks Variationen über Shakespeare erzählt: Im Jahre 1607 stechen im Hafen von London drei Schiffe zu einer Atlantiküberquerung in See, um in Jamestown/Virginia die erste Kolonie der transatlantischen Kolonialgeschichte zu gründen. Eines der drei Schiffe, die „Sea Venture“, gerät in einen Sturm und sinkt. Schiffbrüchige erreichen eine Insel, die später unter dem Namen „Bermudas“ bekannt werden wird. Zwanzig von ihnen erreichen mit großer Verspätung Jamestown. William Shakespeare trifft später einige dieser Abenteurer in Londoner Pubs, und was sie erzählen, soll ihn zu seinem letzten Drama inspiriert haben, das er eine Komödie nennen wird. Wenn das Bochumer kainkollektiv am Prinz Regent Theater eine Inszenierung von Shakespeares Sturm ankündigt, sollten Kenner gewarnt sein: kainkollektiv und Klassiker - das gab’s noch nie. Stattdessen setzt sich die Gruppe seit vielen Jahren - zum Beispiel in Kooperationen mit dem OTHNI-Theater aus Yaoundé - mit der Kolonialgeschichte, der Sklaverei und dem Afrofuturismus auseinander.
„Ce n'est pas ma pièce“, wendet sich die kamerunisch-deutsche Schauspielerin Edith Voges Nana Tchuinang ab. Auch ihr deutscher Kollege Alexander Steindorf erkennt: „Wenn schon Jim Knopf und Pippi Langstrumpf nicht mehr möglich sind, dann gehört der ‚Sturm‘ in den kolonialen Giftschrank.“ Die Gründe dafür sind - vor allem aus dem Blickwinkel einer kamerunischen Schauspielerin - offensichtlich: Der fremde Eindringling Prospero schwingt sich zum Herrscher über die Insel auf und versklavt die Einheimischen, die als merkwürdige Luftgeister und bösartge Ungeheuer beschrieben werden; Trinculo will den Caliban sogar in Europa (wie in späteren Völkerschauen üblich) gegen Entgelt ausstellen; die einzige Frau ist lieblich, ein wenig dumm und wird zwangsverheiratet. Der Zauberei der Einheimischen setzt Prospero zudem die „weiße Magie“ entgegen, die zwar so richtig nur in Kooperation mit dem der Urbevölkerung entstammenden Luftgeist funktioniert, sich aber der Zauberkraft des neu entdeckten Kontinents als überlegen erweist. Da schreit der moderne kritische Stücke-Dekonstruktivist reflexartig: Rassismus! Verherrlichung der Kolonialherrschaft! Frauenfeindlichkeit! Dabei weiß man nicht so genau, ob der gute William sein Drama nicht ebenfalls als Gleichnis auf die politischen Umwälzungen und Intrigen einer ersten Globalisierungswelle geschrieben hat. Der mächtig eurozentrische Blickwinkel muss nicht verwundern: Allzu viele Menschen waren es nicht, die im Entstehungsjahr des Dramas 1611 schon auf interkulturelle Erfahrungen dank billiger Pauschalreisen oder immersiver Entdeckungstouren zurückgreifen konnten.
Aber gut: Der Ansatz ist gewählt, ce n’est pas leur pièce, und so hangeln sich Edith Voges Nana Tchuinang und Alexander Steindorf, begleitet und ab und zu auch schauspielerisch unterstützt von dem großartigen Sound-Künstler Rasmus Nordholt, an ihren biografischen Erfahrungen entlang zu einer Collage von assoziativen Ideen, deren Zusammenhang mit der Handlung von Shakespeares Stück auch mal für längere Zeit aus den Augen verloren wird. Eigentlich versuchen sie, ihre Ideen zu ordnen: in einem „Shakespeare-Exorzismus in fünf Akten“. Natürlich wird nicht nur der Sturm exorziert, sondern der ganze Shakespeare in den Topf mit den aus Sicht heutiger Ideologen politisch inkorrekten Machwerken geworfen, in dem ja eh der größte Teil der klassischen Literatur schmort. Wenn der Sturm schon nicht ihr Stück ist, so gehört ihnen zumindest ihr Leben. Auf das blicken sie dann erstmal zurück, Prospero sei erstmal auf die lange Bank geschoben. Frau Voges Tchuinang räsoniert ausgiebig über ihre vier Namen, die deutschen und kamerunischen Ursprung haben (dachten wir uns schon), und sucht dann weitgehend vergeblich nach Rollen in der klassischen Theaterliteratur, die ihr angemessen erscheinen. Bei Herrn Steindorf beginnt die Intro- und Retrospektion in der Stadt der hehren deutschen Dichterfürsten, also bei Goethe, Schiller und (ein paar Kilometer weiter) Karl May. Steindorf wurde in tiefster DDR-Zeit in Thüringen geboren und wuchs in Weimar, um Weimar und um Weimar herum auf. Doch Weimarer Klassik hin oder her: Die Helden seiner Kindheit waren - wie bei uns Älteren allen - Old Shatterhand und Winnetou, Lederstrumpf und Tarzan, Ausgeburten ignoranter kolonialer Phantasien also. Wir sollten uns was schämen anstatt zu bedauern, dass die erste große Liebe unserer Enkel nicht mehr auf den Namen Nscho-Tschi hört. Verschlungen haben wir die Werke des großen Literaten Kara Ben Nemsi alias Karl May - solche Verirrungen mussten ja zwangsläufig im Zuge des Erwachsenwerdens in einer Liebe zu Shakespeare enden, igitt!
Okay, der ganze Zauber Shakespeares (von dem es gerade im Sturm ja eine Menge gibt) verfliegt beim Wiederlesen und wird zu „kolonialem Klimbim“ mit manch rassistischer Attitüde. Das kann man so sehen, wenn man sich unbedingt die Freude an dem Drama kaputtmachen will. Shakespeares Weisheit und Moral, so heißt es weiter, sei nichts als „falscher Humanismus“. Kann man das auch noch so sehen oder ist eine solche Aussage nicht geschichtsvergessen? Steckt dahinter nicht die Arroganz vieler heutiger Ideologen, die Haltungen und Entscheidungen von früher partout nur durch die Brille von heute betrachten möchten anstatt den Wissensstand, den Zeitgeist und die politische Situation zu der Zeit zu berücksichtigen, in der diese Haltungen geäußert wurden und zu den entsprechenden Entscheidungen führten? Das kainkollektiv weist auf eine interessante Überschreibung von Shakespeares Sturm hin: Aimé Césaire, der durch seinen „Discours sur le colonialisme“ bekannt wurde, hat im Jahre 1970 Shakespeares Sturm zu einem dezidiert antikolonialistischen und antirassistischen „Stück für ein schwarzes Theater“ umgeschrieben. Eine literarische Gegenposition als politisches Statement und als Aufarbeitung der Sünden kolonialistischen Denkens: Das erscheint spannend, man würde das Stück gern einmal auf deutschen Bühnen aufgeführt sehen.
In Steindorfs DDR-Rückblick geht es auch um die zur Wendezeit erfolgte „Kolonialisierung der Köpfe“, die durch die Gier der DDR-Bürger nach dem Wohlstand und der Macht des Westens erleichtert wurde. Ja, bei Lichte betrachtet hat der übermächtige Westen in den Jahren der Wende sicher eine Art Kolonialpolitik gegenüber dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR betrieben. Man hätte die Wiedervereinigung zweifellos sensibler gestalten müssen, aber verlust- und konfliktfrei wäre wohl nur die Beibehaltung zweier souveräner Staaten über die Bühne gegangen. Das zu wünschen, ist eine legitime, aber nicht mehrheitsfähige Haltung. Was sie mit Shakespeare zu tun hat? Na ja, kainkollektiv kommt halt stets von Hölzken auf Stöcksken, und die assoziativen Collagen der Gruppe mit - auch diesmal wieder - zahllosen Zitaten aus der Literatur, der Philosophie, der Soziologie und der Geschichte geraten einerseits zu einer heillosen Überforderung des Publikums, bringen anderseits aber auch die grauen Zellen der Zuschauer auf Touren, so sie denn willig sind, komplexen Gedankengängen und plötzlichen Sprüngen zu folgen. So arbeitet man sich durch das Dickicht der Argumente vor, die die Vertreter des Klassiker-Bashing gegen ihren Untersuchungsgegenstand ins Feld führen: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, mangelnde Gender-Gerechtigkeit, diskriminierende Sprache, Vereinnahmung durch den aufkommenden Rechtsextremismus etc.
Lange wird über Corona philosophiert, ein Thema, ohne das in diesen Tagen leider keine Neu-Inszenierung mehr auszukommen scheint. „Corona ist nur ein Vorbote dessen, was uns erwartet“, hatte es schon frühzeitig geheißen: „Corona ist nur die kleine Schwester von Klima.“ Vielleicht ist der „Sturm“ ja auch ein klimawandelbedingter Hurricane gewesen, wer weiß? Beobachtete und erlebte sexuelle Übergriffigkeiten in einer von Publikum und Presse umjubelten Theater-Inszenierung werden retrospektiv kritisiert. Die Flüchtlingskrise klingt an – durchaus naheliegend bei einem Stück, in dem Schiffbrüchige an die Küsten eines fremden, feindseligen Landes geschwemmt werden. Es gibt nichts, was es nicht gibt: Durch die mangelnde Beschränkung zerfasert die anfänglich dichte, aber überladene Aufführung, bevor im 5. Akt erneut das wohl wichtigste Thema dieses Abends in den Vordergrund rückt. Das ist - logischerweise - für Edith Voges Nana Tchuinang wesentlicher als für Alexander Steindorf, hat aber auch für den Deutschen Relevanz. Es ist die permanente Identifikationssuche, im Leben wie im Theater.
Eigentlich sind die Schauspieler darüber längst hinaus: Aus der Identitätssuche ist eine Identitätsvergewisserung geworden. „Etwas endet. Etwas beginnt neu“, sagt Nana Tschuinang. Man schließt ab mit Shakespeare, aber auch mit der Unterdrückung der kolonialisierten Völker. Es gibt so etwas wie ein erwachendes Selbstbewusstsein der Dritten Welt. Erst wenn auch im Alltag, wenn auch im Bewusstsein jedes Einzelnen Augenhöhe zwischen den Kulturen hergestellt ist, sind Aufführungen wie diese obsolet. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass traditionelle, mit im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäßen Motiven befrachtete Stücke heute nicht mehr auf die Bühne gehören, erscheint doch allzu geschichtsvergessen. Man darf dem Publikum ausreichende Intelligenz zubilligen, um zwischen politischer Korrektheit des 21. Jahrhunderts und dem eurozentrischen Humanismus früherer Epochen unterscheiden zu können - und beide Ansätze zu schätzen.