Keine Nähe, nirgends
Die Theatermaschinerie läuft auf Hochtouren. Es wird gesungen und getanzt, herzige Popsongs werden ironisch als schwergewichtiger Schauspiel-Text interpretiert, die Drehbühne rotiert. Elektronische Sounds und die Livemusik des Trios Santiago Blaum, Nathan Bontrager und Radek Stawarz begleiten das Geschehen, und was die Kostümbildnerin Jenny Theisen dem Ensemble, das gleichgewichtig aus dem Düsseldorfer Schauspielhaus und aus Constanza Macras‘ Tanzkompanie Dorky Park zusammengestellt ist, auf den Leib geschneidert hat, ist so phantasievoll, dass die Dame gleich zu Spielzeitbeginn schon mal auf die Kandidatenliste für die Kostüme des Jahres kommt. Dennoch funktioniert der Abend nicht so recht.
Dabei macht der zu Beginn eine Menge Spaß. Vorsichtig, ruckartig, unbeholfen setzen sich Schauspieler und Tänzer zu ihrer ersten Choreografie in Bewegung, ein bisschen wie kaputte Automaten: „Musical Robot Show“ werden sie das später einmal nennen. Man tanzt – aber es herrscht die Pandemie, und so gilt es, Abstand zu halten. Der Zwang zur Verhaltensänderung verunsichert: Nicht anders geht es uns im Parkett, die wir zahlreiche Freunde und Bekannte treffen, denen wir uns plötzlich bei der Begrüßung nicht mehr zu nähern wagen. Herzergreifend sind die sehnsuchtsvollen Griffe von Florian Lange nach der grazilen Miki Shoji: Jeder Versuch einer Berührung scheitert. Dann wackelt einer herausfordernd mit seinem Tanga-Slip-Hintern; mangels Sexualpartner übt man so etwas wie eine Masturbations-Choreografie ein – aber stets gilt: Abstand halten. Minna Wündrich singt ein trotzig-leichtes Corona-Lied („Ich will keine Quarantäne / und ich heul‘ den ganzen Tag“), die anderen zitieren voller Tragik und Melancholie die seichten Verse diverser Popsongs als seien sie Goethes Werther entlehnt und transformieren sie zu ebenso witziger wie trauriger Poesie. Im Parkett, umgeben von lauter leeren Sesseln und allenfalls dem Partner aus der eigenen Infektionsgemeinschaft, ertappt man sich bei dem dringlichen Wunsch, dass sich endlich mal zwei der Akteure auf der Bühne umarmen mögen. Keine Nähe, nirgends.
In der ersten Hälfte des langen zweistündigen Abends blickt Constanza Macras auf den Corona-Lockdown zurück – mit milder Ironie, aber ohne allzu große künstlerische Verfremdung. Eine Weile fühlt man sich gut unterhalten, aber irgendwie ist das alles auch allzu nah an unserem eigenen Erleben. Wirkliche Überraschungsmomente bleiben aus. Allerdings gibt es ein paar schauspielerische Glanzlichter: Die von Anna-Sophie Friedmann in breitestem austriakischem Dialekt dargebotene Klage über die vergeblichen Versuche, während des Lockdowns die überflüssigen Pfunde loszuwerden, erinnert an den Humor, die Komik, die Absurdität und den Schmäh einer Stefanie Sargnagel; Friederike Wagner dagegen erzählt eine endlos lange Pferdegeschichte, deren Witz auch nach einer gefühlten Viertelstunde nicht zünden will. Der Lockdown wird zur „großen Introspektion“, wie Minna Wündrich es nennt, doch die Art und Weise, wie die neu gewonnene und oft schlecht genutzte Zeit verbracht wird, kennen wir aus eigener Erfahrung der letzten Monate: Da gibt es nicht allzu viel Neues in Constanza Macras‘ Nummernrevue, und somit fehlt dem Abend Originalität. Die große Introspektion mündet in die große Nörgelei – aber anders, als Wündrich es meinte.
Immer wieder nimmt die Inszenierung, die schließlich eine „dystopische Science-Fiction-Komödie“ sein will, auf Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ Bezug. Die „Epsilons“, die Mitglieder der niedrigsten der fünf Kasten in Huxleys Roman, haben zu Zeiten von Corona Hochkonjunktur: als Paketboten für die aus dem Himmel Amazoniens fallenden Päckchen. Doch auch die Passagen, in denen auf Huxleys Dystopie Bezug genommen und über die erforderliche Ration der Droge Soma, mit welcher die Auswirkungen der Pandemie und anderer künftiger Katastrophen erträglich gestaltet werden könnten, räsoniert wird, entwickeln wenig Biss. Ohnehin strandet die Inszenierung im zweiten Teil endgültig auf dem Niveau der Nummernrevue, obwohl es mehr intellektuelle Unterfütterung gibt: Sehr hübsch gerät noch einmal die kabarettistische Erzählung von der Geschichte der Erde, beginnend mit der fatalen Überbringung des Feuers durch Prometheus an die Menschen und endend mit ihrer Zerstörung durch die zahlreichen "Fortschritte", die die Menschheit dank der Existenz des Feuers erzielen konnte. Serkan Kaya, ohnehin im Verlauf der zwei Stunden einer der prägendsten und charismatischsten Schauspieler auf der Bühne, gehört gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern von Dorky Park der fulminante Schlusspunkt. Der ereignet sich endgültig erst in Post-Corona-Zeiten. Denn zwischenzeitlich sind sie alle verstorben, unsere schauspielerisch und tänzerisch durchaus überzeigenden Bühnenfiguren. Sie starben voller Poesie, aber allein. Es gibt keine Nähe, nirgends.