Übrigens …

Die Hermannsschlacht im Köln, Schauspiel

Helden im Tierfell

Das Publikum ist in nur zwei Reihen rings um die Spielfläche platziert. Das ist ein genialer Schachzug: Alle Zuschauer sind nah am Geschehen, trotz penibler Einhaltung coronabedingter Abstandsregeln. Und das verstärkt die Wucht einer Aufführung, die hohe Konzentration erfordern und eine ideale Balance zwischen intellektueller Herausforderung und emotionalem Schauspiel finden wird. An den Wänden hängen großformatige schwarz-weiße Abzüge von Meisterwerken der Malerei, die vor Kitsch respektive Pathos nur so triefen: „Blüchers Rheinübergang bei Kaub“ von Wilhelm Camphausen ist dabei, Caspar David Friedrichs allseits bekannte „Abtei im Eichwald“, ein allerliebster „Kinderreigen“ von Hans Thoma und – im Schlussbild wird das Bild wunderbar ironisiert werden – Paul Thumanns „Heimkehr der Deutschen aus der Schlacht im Teutoburger Wald“. Nordische Mythologie, deutsche Romantik, einstige nationale Identifikationssymbole – und Darstellungen aus der berühmt-berüchtigten „Gartenlaube“. Heinrich von Kleists Hermannsschlacht galt nach dem 2. Weltkrieg lange als kontaminiert (eigentlich bis zu Claus Peymanns liebevoll ironischer Neu-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum im Jahre 1982), denn die Nationalsozialisten hatten das Drama als heldenhafte Sage von der Überlegenheit der germanischen Rasse instrumentalisiert und zweckentfremdet. Hand aufs Herz: Eine Menge Nationalstolz und Heldenverehrung steckt schon drin, in Kleists Historienschinken um den Sieger vom Teutoburger Wald. Igor Pauskas Bühnendekoration spielt voller Ironie sowohl auf den Nationalstolz als auch auf die Zweckentfremdung an. In einer besonders dichten Szene zucken ungezählte kleine Flämmchen auf der Oberfläche des Flügels, an dem Nicola Gründel häufig mit ein paar Takten Beethoven für Atmosphäre sorgt. Unwillkürlich denkt man an den germanischen Feuerkult, den die Nationalsozialisten für ihre Zwecke einzusetzen pflegten.

"Woher kommst du?" - "Aus Nichts". - "Wohin gehst du?" - "Ins Nichts." - Es sind die Sätze der Alraune bei ihrem Treffen mit dem römischen Feldherrn Quintilius Varus, die gleich zu Beginn im Flüsterton aus den Lautsprechern erklingen und die Varus nichts Gutes für die Schlacht prophezeien. Immer wieder fallen diese Sätze in den Dialogen, und zumindest für die Figuren, die Oliver Frljic in seiner Interpretation des Stücks auf die Bühne gestellt hat, scheint tatsächlich zu gelten: Ihr Wertesystem führt letztlich ins Nichts. Machos, Intriganten, Taktiker, kriegslüsterne Machtpolitiker sind sie, wie nicht von dieser Welt in Felle gekleidet, mit gehörnten Helmen, Bürsten, Geweihen oder anderem steinzeitlich anmutendem Schmuck. Das mit dem Nationalstolz ist so eine Sache, wenn man sich diese Helden der Haute Couture als Vorbilder nehmen soll. Aber ist diese Welt der intriganten Machtspielchen uns wirklich so fern? Frljic will in seiner Inszenierung die überzeitlichen Mechanismen von Machtgier und Rücksichtslosigkeit befragen und behauptet Allgemeingültigkeit. Sieben Schauspieler wechseln permanent die Rollen so wie die Kriegsherren die Taktik, unvermittelt, mitten im Dialog. Eindeutige Charaktere lassen sich da nicht festlegen: Wenn in der ersten Szene einer der aufgeregten Fürsten (diesmal Sean McDonagh) den Cherusker zum (unvorsichtigen) Angriff gegen die Römer auffordert, bleibt Hermann bei Nikolaus Benda cool, souverän und staatsmännisch. Hannah Müller dagegen gibt den Hermann kreischend und wütend als Choleriker, bei McDonagh wirkt die Figur unstet und flirrend.

Immer aber bleibt den Figuren das Taktische, Intrigante, Rücksichtslose, ja, wenn man so will: Unmoralische des Kriegsspiels eingeschrieben: Hermann bastelt unermüdlich an dem strategischen Konzept, mit dem er sich unter Vorspiegelung falscher Bündnisse sowohl gegen die von Westen angreifenden Römer als auch gegen den ihn von Südosten bedrohenden Suebenfürsten Marbod durchsetzen will – und seine Gegenspieler Marbod und Varus tricksen mit den gleichen Mitteln. Am langen Verhandlungstisch sitzen sich Hermann und Varus mit maximalem Abstand gegenüber – Macht wurde auch vor Corona schon durch Distanz ausgedrückt -, und bis in die Zuschauerreihen ist die versteckte Falschheit der Verhandelnden spürbar. Hermann behauptet einmal, bei der Entscheidung über das politische Vorgehen gehe es um die Frage von Besitz oder Freiheit – und er entscheide sich für die Freiheit. Doch geht es diesen Gestalten weder um das eine noch um das andere: Es geht um Macht. Die mag Besitz mit sich bringen, und Freiheit auch: aber nur für den einen, den Mächtigen, den Sieger aller Schlachten.

Der permanente Rollenwechsel und die argen Kürzungen und Handlungssprünge fordern hohe Konzentration. Frljic führt die Zuschauer jedoch behutsam auf die Fährte: Die ersten überraschenden Rollenwechsel fallen im Dialog zwischen Hermann und seiner Thusnelda auf und sind nicht zu übersehen. Doch auch die großartige Lichtregie von Jan Steinfatt, der die Bühne oft nur punktuell ausleuchtet, sowie der Soundtrack von Daniel Regenberg fördern die Konzentration und lenken die Aufmerksamkeit. Da geht harmonischer Gesang auch mal in schreckliches Kriegsgeheul über, leise rhythmische Bewegungen enden in martialischen Choreografien oder im Geräusch eines Fliegerangriffs. Frljics Inszenierung ist Regietheater par excellence, gerät aber dennoch bisweilen zu einer Feier der Kleist’schen Sprache. Manchmal wird sie nur leise gesprochen, aber durch Mikroports verstärkt. Auch das fördert die Aufmerksamkeit und schafft Atmosphäre, ja: sogar eine ansatzweise erotische Stimmung, als Benjamin Höppner als Ventidius mit Nicola Gründel als Thusnelda anbändelt. Ansonsten allerdings spielt die Liebesgeschichte anders als bei Peymann 1982 und bei Dušan David Parízek am Deutschen Schauspielhaus Hamburg 2007 bei Frljic keine Rolle. „Thuschen“ ist bei Gründel eine vorwiegend sachliche, bei Ines Marie Westernströer sogar eine ausgesprochen selbstbewusste Figur.

Gegen Ende nimmt die Betonung des Deutschtums zu. „Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war“, heißt es – doch in die Aggressivität dieses Aufrufs zur Schlacht mischt sich auch Angst. Worte von Heiner Müller erläutern noch einmal die Intention der Inszenierung – und bekommen gleichzeitig eine neue politische Bedeutung. „Wer mit sich identisch ist, kann sich einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein Denkmal.“ Irgendwie wirkt das auch als ein Seitenhieb gegen die erstarkende identitäre Bewegung. Frljic baut ironische Denkmäler auf - und stürzt sie. Zuletzt sitzt der Sieger der Schlacht in heroischer Pose auf einem fragilen Blechgestell mit einem knöchernen Pferdeschädel, parallel zu Thumanns Heldenbild an der Wand. Ob da jedoch Hermann sitzt oder der Suebenfürst Marbod, bleibt bewusst unklar. Das Heldentum führt ins Nichts, und Heldenverehrung ist nichts als hohles Pathos.