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1934 - Stimmen im NS-Dokumentationszentrum Köln

1934 - Stimmen

Es war ein merkwürdiges Preisausschreiben, das der polnisch-amerikanische Soziologe Theodore Abel im Jahre 1934 unter der deutschen Bevölkerung ausschrieb. Abel, geboren in Lodz und im Alter von 29 Jahren in die USA ausgewandert, war Soziologe an der Columbia University in New York. Im Rahmen einer groß angelegten Projektarbeit wollte er die Beweggründe deutscher Bürger für ein Engagement bei der NSDAP erforschen - und zwar ausdrücklich jener, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Partei eingetreten waren. Gemeinsam mit der NSDAP schrieb er einen Wettbewerb aus, um an die Lebensgeschichten früher Nationalsozialisten zu gelangen. Dabei interessierte sich Abel weniger für die Partei-Ideologie als vielmehr für die ganz alltäglichen Gründe, die die Menschen zum Eintritt in die Partei veranlasst hatten. Die meisten der knapp 700 Zuschriften sind heute noch erhalten und in digitalisierter Form beim der Stanford University in Kalifornien angegliederten Hoover Institute zugänglich.

In der ehemaligen Gestapo-Zentrale in Köln ist heute das NS-Dokumentationszentrum der Stadt untergebracht. Dort haben sich der Kölner Theatermacher André Erlen und sein Team von der freien Gruppe Futur3 der von Abel gesammelten Texte in einer performativen und installativen Arbeit angenommen. Nach einer kurzen Einführung schickt uns eine freundliche Dame auf den Parcours durch das Gebäude - vor allem durch den Keller. Wir wissen: Das nach den Initialen seines Erbauers „EL-DE-Haus“ genannte Gebäude war die Folterzentrale der Gestapo; auf unserem Rundgang werden wir auch an den zehn Gefängniszellen vorbeikommen, die die geheime Staatspolizei hier betrieb. Dieses Wissen steigert die Beklemmung, die den Besucher der performativen Installation erfasst. Manchmal sehen wir Bilder einer Ausstellung - beispielsweise zu den Sportangeboten der Nazis, die die Bürger mit Begeisterung nutzten; kleine Animationen (ein kindlich gezeichnetes brennendes Haus, auf das ein Panzer zufährt!) stellen die Kriegsspiele der Kinder dar, die den Ersten Weltkrieg zunächst vor allem als Abenteuer wahrgenommen hatten. Währenddessen kommen die Texte der „Abel Papers“ aus Lautsprechern. Oft aber begegnen wir realen, in Alltagskleidung der Zeit kostümierten Schauspielern, die aus unterschiedlichsten Perspektiven ihre glühende Verehrung für den Führer, ihre Begeisterung für Uniformen, ihre Demokratiefeindlichkeit resp. ihre Enttäuschung über die in einer schwachen Demokratie gemachten Erfahrungen, ihre friedliebende Einstellung bei gleichzeitiger Freude daran, den Gegnern der Bewegung „eins aufs Maul zu geben“, schildern. Was wir erfahren, ist nicht neu, aber den Führerkult, die fehlgeleitete Heldenverehrung und die Begeisterung für das völkische Gedankengut in so geballter Form präsentiert zu bekommen, ruft Unwohlsein und Gruseln hervor.

Erlen und sein Team haben versucht, die einzelnen Stationen und die dort präsentierten Zitate thematisch zu ordnen, und geben jedem Raum eine Überschrift. Gleich die zweite könnte auf nahezu alle Stationen passen: „Groupies“. Es ist in der Tat aus der Perspektive eines aufgeklärten Westeuropäers des 21. Jahrhunderts kaum nachvollziehbar, mit welchem naivem Glauben, mit welcher Religiosität und welchem girliehaften Schwärmen Männer und Frauen Adolf Hitler und seiner nationalsozialistischen Bewegung zu Füßen lagen. Die Schilderung eines der frappierendsten Glücksmomente, nämlich „als mein Mann das große Glück hatte, dem Führer im Tempelhofer Flughafenrestaurant eine Erfrischung reichen zu dürfen“, hat Futur3 im Untertitel seiner Arbeit festgehalten. Bei solchen Aussagen möchte man sich den GröFaZ wie Justin Bieber vorstellen, aber es handelt sich nicht um Girlies, sondern um erwachsene Menschen, die ihr Gehirn derart an der Flughafengarderobe und anderswo abgegeben hatten - oder wohl eher: deren Gehirn einer Zwangswäsche nicht hat widerstehen können. Der Blick muss gar nicht weit über die westeuropäischen Demokratien hinausgehen, um auch heute noch Bespiele für eine solche kritiklose Verehrung von Autokraten und Diktatoren zu finden.

Die Performer arbeiten mit unterschiedlichen Strategien: Der Mann, der von dem Kulturangebot der Nationalsozialisten und ihrem „Sinn für edle Dinge“ schwärmt, der ihm die Kunst Richard Wagners erschlossen hat, sieht bei seinem begeisterten Vortrag eher aus wie ein Zombie, der Junge dagegen, der auch schon mal (im Suff oder auch nüchtern) Andersdenkende verprügelt, wirkt weich und durchaus sympathisch. In den Köpfen von frühen Nazis und Nazissen hat halt eine Werteverschiebung stattgefunden: Im Raum „Amazonien“ reflektiert eine Frau über das Wort „Nationalsozialismus“. Der Begriff „national“ ist bei ihr positiv belegt, während sie den Begriff „sozial“ als problematisch betrachtet und „erst begreifen lernen“ musste.

Es gibt aber auch die Suchenden: den Mann, der sich auf der Suche nach Führung, nach einer Philosophie, die ihm Halt gibt, mit dem Kommunismus und dem völkischen Weltbild auseinandergesetzt hat - und sich für Letzteres entschieden hat. Es gibt den Intellektuellen, der einen grundsätzlich begrüßenswerten Ansatz verfolgt: „Lernen, Lesen, Vergleichen“ ist sein Motto. Und so hat er gelesen und verglichen: Hitlers „Mein Kampf“, Karl Marx und Bismarcks Erinnerungen. Überzeugt hat ihn „Mein Kampf“. Theodore Abel wird dafür Verständnis gehabt haben, denn auch er blieb eine zweifelhafte Figur, die den Ideologien der Nazis auch nach einigen Deutschland-Reisen mit persönlichen Kontakten bis ins Propaganda-Ministerium durchaus zugeneigt gegenüberstand.

Gegen Ende allerdings findet ein weiterer Intellektueller Gehör. Es ist Sebastian Haffner. In seinen „Erinnerungen 1914 - 1933“ beschreibt er sein Unbehagen angesichts des Entstehens einer ganz neuen Sprache mit Vokabeln wie „Untermensch“, „artfremd“, „Scholle“ oder „Volksgenosse“. Mit „unbeteiligt-überlegener Ruhe“ habe er den „Anfängen der Nazi-Revolution… wie von einer Theaterloge aus“ zugesehen. Wehret den Anfängen, scheint er später zu sagen. Angesichts des erstarkenden Rechtsradikalismus sollten wir das beherzigen.

Wie in einer antiken Tragödie haben Erlen und sein Team einen Chor eingeführt, den wir allerdings nur vom Band vernehmen. Die Schauspieler reflektieren dabei über ihr Tun, stellen die Frage, ob man überhaupt die Stimmen von Nazis so unkommentiert ausstellen darf. Ihre Bedenken, die sie immer wieder äußern, scheinen überflüssig. Die Zusammenstellung der Original-Dokumente erfüllt den Zuschauer und -hörer mit Grausen. Und wenn er nach Ende des 100minütigen Parcours‘ hinaustritt in den Innenhof und erleichtert die Corona-Maske ablegt, überfällt ihn die Erinnerung, dass hier, in diesem Hof, noch in den letzten Kriegsmonaten des Zweiten Weltkriegs Hunderte von Menschen, zumeist Zwangsarbeiter, hingerichtet wurden. Grauenvoll - und toll, dass Futur3 die Geschichte von Theodore Abel und seiner Untersuchung zum Leben erweckt hat.