Furor im Theater Münster

Die ganze, grausame-simple Wirklichkeit

Tiefer können Gegensätze nicht sein. Heiko Braubach und Jerome Siebold trennt so ziemlich alles. Braubach ist erfolgreicher Politiker - Ministerialdirgent mit Ambitionen auf das Bürgermeisteramt, während Jerome für einen Subunternehmer zehn Stunden am Tag Pakete ausfährt - ohne Schulabschluss und ohne jede Perspektive.

Nun hat Braubach Jeromes Cousin angefahren. Enno, ein Junkie und Kleinkrimineller, ist ihm vor das Auto gelaufen und hat ein Bein verloren. Braubach besucht Ennos Mutter und will ihr Hilfe anbieten. Das ist natürlich nicht ganz uneigennützig. Die Untersuchung des Vorfalls ergab keinerlei Schuld bei Braubach, doch irgendwelche schlechten Schlagzeilen im Wahlkampf will er dann doch verhindern. Nele, Ennos Mutter, ist durchaus bereit, auf Braubachs Angebote einzugehen. Dann aber betritt Jerome die Szene, schickt Nele weg und reißt die „Verhandlungen“ an sich.

Und es entwickelt sich zwischen Braubach und Jerome ein faszinierendes Duell auf Augenhöhe.

Das entfalten Lutz Hübner und Sarah Nemitz in Furor mit viel Verve und pointierten Dialogen: Schnell packt Jerome seine Forderungen auf den Tisch. Er will für Enno Schmerzensgeld und Rente statt Hilfe bei Entzug und Ausbildung, wie sie Braubach anbietet. Er droht mit Shitstorm und Bloßstellung im Netz. Und so langsam lässt Jerome alles raus, was ihn bewegt. Er ist einer von denen, die sich leiten lassen von Verschwörungsfantasien, den Hass auf „die Eliten“, die sich gegen das Volk verschworen haben und sich der „Lügenpresse“ bedienen. Jerome sieht sich als Teil einer behaupteten Mehrheit, die dagegen kämpft. Er will zum Helden werden in diesem Kampf und droht Braubach letztlich, ihn umzubringen und den Mord online zu stellen.

Dessen selbstbewusste Fassade bröckelt zusehends, als er immer mehr die Mechanismen in Jeromes Vorgehen gewahr wird und die grausamen Möglichkeiten erkennt, die das Netz zu bieten hat. Und so wird der Kampf der beiden immer gnadenloser. Denn ein wirklich brückenschlagender Dialog ist nicht mehr möglich.

Hübner und Nemetz entfalten die Antipoden facettenreich: Jerome und Braubach gleichen sich in ihrem Narzissmus, verfügen aber über ein unterschiedliches Repertoire verbaler Möglichkeiten. Das nutzen die Autorin und der Autor für herrlich zugespitzte Dialoge, die an keiner Stelle abschweifen.

Regisseurin Alice Asper greift diese Steilvorlage auf. Sie setzt gegen die Dialoge, die sich wie in einem langsam sich überhitzenden Dampfkessel entwickeln, weitestgehend ruhige Bewegungen. Selten wird es hektisch. Das ermöglicht ein hohes Maß an Konzentration auf das gesprochene Wort und lässt dem Publikum Raum, immer wieder Brücken zu schlagen von der Szenerie zur Realität.

In einem von Bernhard Niechotz sparsam ausgestattetem Raum mit Wäscheständern und wenigen Discountermöbeln gibt Ilja Harjes dem Self-made-Man Braubach Kontur und Gestalt, verdeutlicht dessen Eitelkeiten genauso wie das die Erschütterung und das völlige Unverständnis für die Netz-Welt, in der Jerome sich bewegt. Dessen Verzweiflung am Leben offenbart Paul Maximilian Schulze in anrührender Weise ebenso wie seine Flucht in eine fatal konstruierte Welt, die immer mehr das Handeln bestimmt.

Die Auseinandersetzung wird von Ulrike Knoblochs Nele beendet. Deren Pragmatismus lässt sie handeln. Sie nimmt Braubachs Angebote an und wirft Jerome aus der Wohnung. Doch ganz am Ende nähert der sich langsam vom Bühnenhintergrund - mit ihm auch wieder seine Gedankenwelt?

Furor erlebte seine Uraufführung im Jahr 2018. Die Welt der Covidioten hat dafür gesorgt, dass die Realität wieder einmal ganz schnell noch grausamer ist als das Geschehen auf der Bühne.