Übrigens …

Antigone. ein requiem im Mülheim, Theater an der Ruhr

Der Widerspruch zwischen Gesetz und Moral

Auf der Videowand sehen wir die am Strand aufgereihten Leichensäcke. Antigone wird die Leichen der ertrunkenen Flüchtlinge in die Stadt schleppen, sie ausstellen, sie sichtbar machen. Doch: „Wer will schon noch in die Stadt, außer Haus, wenn aufgereiht dort die Toten liegen? … Wenn sie wenigstens irgendeinen Nutzen hätten…“

Thomas Köck, zweimaliger Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises, hat Sophokles' Antigone überschrieben und diskutiert nicht mehr die Rechtmäßigkeit der Bestattung von Polyneikes, sondern die Sichtbarmachung der ertrunkenen Flüchtlinge des 21. Jahrhunderts. Ismenes Haltung ist, so steht zu befürchten, für die Mehrheit auch unserer bundesdeutschen Bevölkerung repräsentativ: „Man lebt nur einmal“, sagt sie und zeigt sich am Schicksal der Toten uninteressiert. Zynisch, mitleidlos, aber in Simone Thomas Inszenierung am Theater an der Ruhr vor allem ohne Empathie und Nachdenken tut die burschikose, in ihrer Spielweise durchaus erfrischende Gabriella Weber das Schicksal der Flüchtlinge ab, die einfach „aus der Geschichte rausgefallen (seien), die leider nicht die ihre war.“ So grausam sich solch ein Satz anhört: Er fällt sicher an so manchem Stammtisch, an dem Menschen sitzen, die weit davon entfernt wären, sich als Rechtskonservative oder AfD-nah zu bezeichnen. Kreon dagegen ist nicht gedankenlos. Er verfolgt ein politisches Konzept. „Das sind nicht unsere Toten“, bestimmt er, ohne dabei die Unversöhnlichkeit und die Brutalität eines Matteo Salvini auszustrahlen. Er weiß um die Gefahr der Polarisierung der Gesellschaft in einem multikulturellen Umfeld mit extremen Unterschieden im Hinblick auf Bildung und Lebensstandard und will der Migration Einhalt gebieten. „Austarieren“ müsse er, sagt er, Risse in der Gesellschaft verhindern. Glasklar erkennen wir die kaum lösbare Konfliktsituation wieder, in der sich auch die bundesdeutsche Politik befindet. Antigone aber ist die Stimme der Moral: Sie macht die Toten sichtbar, zerrt den Skandal ans Tageslicht. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, wird in der Aufführung am Mülheimer Theater an der Ruhr einmal Ingeborg Bachmann zitiert. Aber Antigone ist kein Riot Girl wie in manchen heutigen Sophokles-Inszenierungen. Sie ist eine ruhige, bestimmte, gelassene und souveräne Verteidigerin unserer Werte. Kreon dagegen verteidigt unsere Ordnung und unsere Gesetze. Stehen die etwa im Widerspruch zu unserem Wertesystem?

Zumindest in weiten Teilen der europäischen Politik sieht Köck einen Widerspruch zwischen moralischen Werten (auch: gesundem Rechtsempfinden) und sturer Gesetzestreue. Sogar das heilige – und, wie wir dachten, weltweit vorbildhafte – Grundgesetz bekommt einen Seitenhieb ab. Antigone verteidigt das ursprüngliche Wertesystem, das auf Humanität, Gleichheit und Menschenrechten beruht. Dieses Wertesystem sieht Köck längst abgeschafft, verfault, ersetzt durch die Jagd nach Reichtum und Geld, durch das rücksichtslose Streben nach Wachstum, das zu Müll und Überfluss führt. Die oberflächliche Verdrängungskünstlerin Ismene und der eurozentrisch denkende Kreon (Fabio Menéndez) sind Vertreter einer restaurativen Ordnung. Schon die von Elisabeth Strauß verantworteten Kostüme weisen sie als solche aus. Dagmar Gepperts Antigone dagegen ist eleganter gekleidet; kunstvoll, bisweilen rhythmisch und antikisierend ist auch ihre Sprache. Ihr Appell an die Moral, ihre Hinterfragung des heutigen Wertesystems hat große Intensität und Überzeugungskraft – nur nicht bei Ismene und Kreon, dem auch sein Weib Eurydike (Petra von der Beek), die ihn mit rationalen Argumenten zu überzeugen versucht, nicht beikommen kann.

Auch Peter Wedels Videos tragen dazu bei, dass die Inszenierung aufrütteln kann und nachdenklich macht, selbst wenn man Köcks massiver Wachstums- und Systemkritik nicht in jeder Facette folgen mag. So wie Köck das antike Drama des Sophokles überschrieben hat, überschreibt die Regisseurin Simone Thoma Köcks Stück mit Motiven, die sie während des Corona-Shutdowns bereits zum Zentrum einer virtuellen, online ausgestrahlten „Talkshow“ gemacht hatte, die wiederum mit Motiven aus Köcks „antigone“ spielte. Thoma lässt das Drama in einem angedeuteten Fernsehstudio des „Potosí TV“ spielen und bettet die Erzählung in ein Fernsehunterhaltungs-Format ein. In der bolivianischen Stadt Potosí ließen die spanischen Kolonialherren die indigene Bevölkerung unter unsäglichen Bedingungen die in über 4000 m Höhe gelegenen Silberminen ausbeuten. Auch dort gab es die Toten vor der Stadt, die Sklavenarbeiter, die die Arbeit in den zum Teil nur 60 Zentimeter hohen Schächten nicht überlebt hatten. Potosí, so heißt es einmal, sei die Wiege des Kapitalismus gewesen; die ort geförderte „Kapitalmasse“ habe die Entwicklung Europas maßgeblich befeuert.

Figuren aus „Potosí TV“ tauchen in der Inszenierung immer wieder auf und sind, wenn man die Online-Aktivitäten des Theaters an der Ruhr während des Shutdowns nicht verfolgt hat, nur schwer zuzuordnen. Gerade aber als sich Köcks Drama über den Widerspruch zwischen Gesetz und Moral allzu sehr um die eigene Achse zu drehen beginnt, erscheint der 86jährige Theaterleiter Roberto Ciulli alias Potosí-TV-Anthropologe und Höhlenforscher Anza Pamber alias Teiresias und gibt der Inszenierung noch einmal neuen Schub. Ciulli spukte bereits während des gesamten Abends im Kopf des Mülheim-erfahrenen Zuschauers herum: Thomas Inszenierung wirkt wie eine Fortsetzung von Roberto Ciullis fulminantem Requiem Boat Memory, das in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute im Sommer sogar ein paar Stimmen als Inszenierung des Jahres ergatterte. Und ohnehin ist diese Auftakt-Inszenierung in dem Jahr, in dem sich Ciulli langsam zurückzuziehen beginnt, wie ein Vermächtnis, ja: wie eine Hommage an den Theatergründer, der das Haus seit 1982 geleitet hat. Ciulli galt stets als der Hohepriester des „Endzeittheaters“. Dieser Begriff kommt dem Zuschauer auch in Simone Thomas Inszenierung wieder und wieder in den Sinn, nicht nur aufgrund des in manchen Passagen apokalyptischen Vokabulars. Videos zeigen, wie die Fluten die Tierwelt bedrohen, zeigen Vulkanausbrüche und Naturkatastrophen. Die Welt geht unter, doch Kreon hält an seiner alten Ordnung fest. Unter der Oberfläche des Meeres erkennen wir Gesichter. Doch dann übertönt das Brausen des über den Menschen zusammenstürzenden Wassers ihre Stimmen.