Übrigens …

Die Irre von Chaillot im Aachen, Theater

Trump plant Garzweiler III in Paris

Ach ja, Paris. Stadt der Liebe, Stadt der Sünde. Ein schönes Puppenhaus hat Elisabeth Pedross auf die Bühne des Theaters Aachen gestellt, ein Breitwand-Prospekt mit Ansichten der Stadt. Irgendwo ist auch die Seine, vielleicht in dem kreisrunden, mit Wasser gefüllten Loch in der Mitte der Bühne, das aber, versprochen, noch andere Funktionen haben wird an diesem Abend. Ein paar Bistrotische und Klappstühle stehen rum; auf den durchsichtigen Vorhang wird die Besetzung der Rollen projiziert. Es gibt ein paar Reiseführer-Weisheiten, und Larisa Akbari singt ein Chanson. Das wird ein gemütlicher Abend, denkt man (tatsächlich ist er in seinen schwächeren Phasen etwas zu gemütlich). Aber Ewa Teilmans hat die personalintensive Komödie, die im Jahre 1946 uraufgeführt wurde, aktualisiert und hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor. Bunt und schrill ist die Inszenierung geworden, auch wenn der Aufführung in manchen Szenen mehr Biss und Tempo nicht geschadet hätten. Doch Teilmans‘ Ehrgeiz geht nicht auf eine bunte Jacke: Sie paart Witz und Comedy mit einem erklecklichen Maß an Absurdität. Das Absurde macht die Qualität der Inszenierung aus. Merkwürdig erscheinen die Rohre, die überall aus dem Boden ragen, erscheint der Kessel, aus dem es ab und zu dampft und aus dem einmal auch Requisiten angereicht werden. Hässliche Rohre inmitten der Hauptstadt gab es in der DDR auch. Hier werden sie noch etwas anderes versinnbildlichen als technische Rückständigkeit.

Geschrieben hat Giraudoux seine Satire im Jahre 1943, zur Zeit der deutschen Besatzung von Paris. Man darf davon ausgehen, dass die vier Honoratioren, deren Ehrenhaftigkeit nach Kräften unterminiert wird, für die Besatzer standen, die für die Unversehrtheit von Paris eine massive Bedrohung darstellten. Doch die grell überzeichneten Figuren, die in Aachen auf der Bühne stehen, haben mit deutschen Besatzern nichts mehr zu tun. Dafür umso mehr mit den Menschen, die die Politik- und Finanzkrisen der heutigen Zeit auslösen. „Ich glaube an das Geld“, ruft Baron Hippolyte (Hermann Killmeyer) fröhlich – eine andere Religion hat er nicht. Den Präsidenten dagegen hat er durchschaut. Torsten Borm gibt ihn als etwas eindimensionale Lachnummer, aber er muss auch nicht viel tun, damit wir das reale Vorbild erkennen. Der Präsident ist ein egomaner Narzisst, dumm wie Brot und ohne jegliche moralische Integrität. Sein Volk ist ihm gleichgültig, solange er selbst und die in seinem Eigentum befindlichen Wirtschaftsunternehmen finanziell und machtpolitisch prosperieren. Wir kennen den Mann, der für die kleinen Leute zu arbeiten vorgibt, aber nur nach der Devise „President first“ vorgeht und noch dem Kellner in die Trinkgeldkasse greift. Seine absurde Sturmfrisur ist zwar der des realen Vorbilds auf der anderen Seite des großen Teichs unähnlich, aber sie muss auch Orkane aushalten, die andere Regierungschefs entfachen, wenn sie etwa die indigene Bevölkerung am Amazonas vertreiben, Passagierflugzeuge abschießen lassen, den Hambacher Forst zur Vernichtung freigeben oder menschenunwürdige Produktionsbedingungen in Asien fördern. Ökologisch umstrittenes Abholzen und lieferkettengesetzwidrige Produktionsbedingungen weisen darauf hin, dass das mafiöse Syndikat nicht nur aus Aristokratie und Politik besteht, sondern ein vierblättriges Ausbeuter-Kleeblatt vonnöten ist. Skrupellos ist auch der Aktienbroker, bei Tommy Wiesner allerdings kein Machtmensch, sondern ein alberner, aber abgehobener kleiner Finanz-Hering. Sein Running Gag ist der schrill gebellte Schlachtruf „AKTIEN!“, mit dem er aufgestiegen ist und mit dem er untergehen wird – anfangs lustig, irgendwann nervig. Schauspielerisch am überzeugendsten, weil sparsamer mit Comedy-Albernheiten umgehend, ist der Prospektor, im Programmheft nur die „Erdölratte“ genannt. Rainer Krause karikiert den Erdölmagnaten im dunklen Anzug mit schwarzen Handschuhen und tänzelt mit lächerlicher Noblesse am Stock über die Bühne. Die Ratte lässt die Katze aus dem Sack: Im Boden unter der Stadt Paris werden große Erdölvorkommen vermutet, und um diese auszubeuten, will die Geld- und Polit-Mafia des Landes weite Teile der französischen Hauptstadt in die Luft sprengen. „Den Tour Eiffel kann man schließlich auch anderswo wieder hochziehen“: Sowas kennt man zwischen Neuss und Aachen: Trump plant Garzweiler III in Paris.

Die vier Honoratioren haben natürlich auch Gegenspieler - es ist Corona-Zeit, es herrscht Abstandsgebot, doch die Inszenierung vereint die bemerkenswerte Zahl von siebzehn (!) Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne. Am Rampenrand sitzt eine Aktivistin von Fridays for Future, die sich ab und an zu ein paar lahmen Protestparolen aufschwingt und nicht mehr für eine Zukunft zur Schule gehen mag, die sie gar nicht mehr zu haben glaubt. Doch es sind die Alten, die anpacken: Vier Schrullen belauschen die Herren zufällig im Café. „Die Zeiten, in denen uns Politik nichts anging, sind vorbei“, konstatiert Gabrielle resolut, und unter Führung der gewitzten Aurélie macht man sich auf die Suche nach der „Tür ohne Wiederkehr“, durch die man die Verbrecherbande nach manchen Umwegen und Winkelzügen einschließlich eines etwas betulich geratenden selbst inszenierten Gerichtsprozesses ins ewige Öl schicken wird. Die alten Schrullen sind nämlich ziemlich souverän denkende, wenn auch vereinzelt geistig beschränkte Schreckschrauben, die schon mal was von hehren Zielen wie Ökologie und Tierschutz und modernen Kommunikationsstrategien wie Posts und Influencing gehört haben. Sie bereiten dem Zuschauer noch viel mehr Freude als die bekloppten Männer – und zwar vor allem, soweit es sich bei den Schrullen um bekloppte Männer handelt.

Stefanie Rösner ist die clevere Aurélie, die den Widerstand organisiert und den Durchblick behält; Larisa Akbari als eher zurückhaltende Joséphine fällt vor allem durch ihre gelegentlich vorgeführten musikalischen Qualitäten auf. Die Brüller aber sind Alexander Wanat als grün gewandete, pseudo-intellektuelle Gabrielle, deren windschiefe Statements oftmals erst zum Lachen und dann zum Nachdenken anregen, sowie Björn Jacobsen als etwas tuntige Constance. Jacobsen gehören die schauspielerischen Highlights des Abends: Rote Haare, falscher Pelz, großartig motivierte Kampfeslust („Tyrannenmord!“, jubelt Constance, als es zur „konspirativen Sitzung“ der alten Damen geht und zitiert gleich Schillers Dolch im Gewande) – Jacobsen hat immer einen neben sich: nämlich Dickie, den Hund, der Harvey heißen müsste, denn es gibt ihn nicht. Der Köter ist längst verstorben.

So gelingen Ewa Teilmans trotz vorübergehender Betulichkeiten bis in die Nebenrollen hinein charaktervolle, wenn auch holzschnittartige komödiantische Portraits. Polizisten und Rettungssanitäter, Lumpensammler und Blumenmädchen, Kellner und Gemüseverkäufer, eine Frau ohne Unterleib und ein lebensmüder Rentner bevölkern die Szene, und jeder resp. jedem von ihnen gehört ein kleiner liebevoller Moment. Die große Liebe aber gehört der kleinen Parallelhandlung: der Liebesgeschichte zwischen dem Küchenmädchen Irma und dem jungen Pierre (Zeljko Marovic). Der stand bei der verbrecherischen Ausbeuterbande als Bombenleger auf dem Besetzungszettel. Doch nun stolpert er mit dem Rettungsring ins Bild: Statt die Stadt in Schutt und Asche zu legen, will er sich lieber ertränken. Sein Rettungsring in der Wirklichkeit wird das Küchenmädchen Irma. Elke Borkenstein hat ihren großen Auftritt unmittelbar vor der Pause mit einer langen, besinnlichen Rede über das Gute und Schöne im Menschen, und von Stund‘ an wächst sie nicht nur Pierre, sondern auch uns mehr und mehr ans Herz. Auch sie hat einen Running Gag: Immer wieder unterbricht sie die Aufführung mit einem kurzen Statement über das, was sie liebt und was sie im Gegenzug hasst. Die schöne, romantische Seele liebt aber vor allem Pierre. Die schüchternen, lange vergeblichen Annäherungsversuche der beiden sind berührend.

Durch das Verschwinden der Verbrecherbande sei die Welt „zumindest ein kleines bisschen gerettet“ worden, stellen die Damen zufrieden fest. Durch die Liebe von Irma und Pierre fällt ein Hoffnungsschimmer auf die Welt. Doch Aurélies Analyse bleibt unwidersprochen: „Die Menschen beten das Goldene Kalb an. Das heißt: Das Beten haben sie verlernt. Sie kopulieren mit dem Goldenen Kalb.“