„Er war allein…alles finster, nichts, er war sich selbst ein Traum.“
Büchners posthum veröffentlichter Prosatext über einen jungen Mann, einen gesellschaftlichen Außenseiter, der vor den Zwängen einer bürgerlichen Existenz flieht, basiert auf einer realen Geschichte. Jakob Michael Reinhold Lenz war einer der bekanntesten Dichter des Sturm und Drang. Büchners Erzählung basiert auf den Tagebucheinträgen des elsässischen Pfarrers Johann Oberlin, bei dem Lenz 1778 mit Anzeichen einer beginnenden geistigen Verwirrung nach einem psychischen Zusammenbruch Obdach fand.
Lenz‘ Wanderung durch die Vogesen - „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirge.“, so beginnt der Abend - ist geprägt von wechselnden Gefühlen. Allmachts- und dann wieder Ohnmachtsgefühle wechseln sich ebenso ab wie Lust- und Angsterlebnisse. Die freundliche Aufnahme im Pfarrhaus beschert ihm nur eine kurze Erholung. Wirklichkeit und Realität verschwimmen, die Zeit scheint aus einzelnen Augenblicken zu bestehen, die ohne Zusammenhang sind. Manische und depressive Phasen wechseln sich ab und lassen aus heutiger Sicht auf eine psychische Erkrankung schließen.
Warum ist dieses Werk heute von Interesse? Aktuell ist nach wie vor die Identitätsproblematik („Er konnte sich selbst nicht mehr finden.“) und die Schwierigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
Fabian Rosonsky richtete im Kleinen Haus diesen vielschichtigen, tiefgründigen und in Phasen sehr anrührenden Text ein und fand in Jonas Friedrich Leonhardi die ideale Besetzung für Lenz. Überaus facettenreich und intensiv verkörpert er die seelisch-psychischen Achterbahnfahrten dieses zutiefst verzweifelten Mannes.
Die graue Guckkastenbühne mit einem weißen Boden weist keine Requisiten auf - bis auf einen Sampler am vorderen Bühnenrand, der verschiedene Stimmen ermöglicht, den Wind durchs Gebirge pfeifen lässt oder eine Liedzeile („Leiden sind mein Gottesdienst.“) immer wieder hören lässt. Leonhardi beklebt im Laufe des Abends die grauen Wände mit weißen Streifen. So entstehen Häusersilhouetten mit Kirche, aber auch die Konturen der Gebirgsgipfel. Ein einfacher, aber sehr wirkungsvoller Regieeinfall, eine Kulisse zu Lenz‘ Gefühlen und Erlebnissen zu zeichnen.
Als Lenz mehr und mehr den rationalen Bezug zum Leben verliert („Es war eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen. Sein Dasein war ihm eine notwendige Last.“), reißt er die Konturen ab und verfängt sich in den Klebestreifen. Braunes Granulat, das er im Laufe des Abends immer häufiger aus grauen Müllsäcken auf der Bühne verteilt, wird zu Erde und letztlich zum Grab.
Trotz Corona-bedingter Einschränkungen - jede zweite Reihe war frei und zwischen den belegten Plätzen gab es reichlich Raum, alle Zuschauer trugen Masken - gelang es dem überaus wandlungsfähigen und talentierten Leonhardi, das Publikum nonstop zu fesseln. Zu Recht langer, herzlicher Beifall.