Übrigens …

Mutter Courage und ihre Kinder im Schauspielhaus Düsseldorf

Mutter Courage in der Scheißgass

Auf der Rückwand der Bühne stehen auf einer riesigen Projektionsfläche gleich zwei Definitionen für „Mut“, darunter blinkt es, offenbar ein aufwändiges Equipment für Elektromusik. Im Dämmerlicht erscheinen acht Figuren und zünden auf einem großen runden Beet mitten auf der Bühne unzählige Kerzen an, ein wenig Friedhofsstimmung macht sich breit, während oben der Titel des Stücks eingeblendet wird: Mutter Courage und ihre Kinder - Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Dann beginnt die Bühne zu rotieren und in sorgsamem Abstand voneinander wird eine Figur nach der anderen an die Rampe gefahren und über Lautsprecher vorgestellt: „Das ist eine Schauspielerin, ihr Name ist Rosa Enskat, sie spielt die Mutter Courage“, als Letzte erscheint Lea Ruckpaul, „sie spielt Kattrin, die stumme Tochter“, hören wir sie sagen, da hat sie ihre Stimme noch, die sie im Stück schon als Kind nach einem Soldaten-Überfall verlor. Eine Rolle, die Lea Ruckpaul mit Anmut, Temperament und Eindringlichkeit gibt. Diese Einführung ist eine Regie-Idee ganz im Sinne Brechts, der in seinem „Modellbuch“ ausdrücklich „realistische Darstellung“ fordert, damit „die Phantasie des Zuschauers nichts hinzufügen“ kann. Der Forderung des Autors an gleicher Stelle nach detailgetreuer Requisite kommt die Inszenierung allerdings nicht nach, im Gegenteil, da gibt es keine Küche, in der gekocht und gebraten wird, und der Kapaun, um den gleich in der zweiten Szene heftig mit dem Koch gefeilscht wird, erscheint nur auf der Projektionswand und da auch nur sein rotes Auge. Später werden Bilder von Krieg und Zerstörung eingeblendet, um das Geschehen zu illustrieren und ab und an gar zu aktualisieren, was vielleicht nicht immer den gestrengen Maßregelungen der Brecht-Erben entspricht. Zwischen der Bebilderung erscheinen auf der Wand auch immer wieder historische Hinweise, verknappte Angaben zu den Ereignissen und zeitlichen Abläufen, wie Brecht sie im Text jeder Szene in großen Lettern als Titularium voranstellt und die hier an die Einblendungen der Stummfilme erinnern.

Nicht nur die Requisiten, viele Textpassagen fehlen, fallen der Hygiene-Länge des Abends zum Opfer, darunter auch mancher musikalische Einschub und Song, die dem Stück zwar erst 1946, fünf Jahre nach der Uraufführung in Zürich, von Paul Dessau hinzugefügt, doch dann zum Teil des Stückes wurden. Der Sound wird bei der Düsseldorfer Interpretation von Christoph Klöser und Jörg Follert allerdings elektronisch stark verfremdet, büßt dabei teilweise seinen volksliedhaften Charakter ein. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet bei dem anrührenden Lied der Courage, dessen Melodie einer alten französischen Romanze entliehen ist, das in der ersten Szene gleichsam ein wehmütiges Motto vorgibt, das eben bei diesem Song die Marketenderin Anna Fierling mit ihrem Wagen in einem Ring von ganz realem Kunstschnee stecken bleibt, der sich um das Kerzenbeet herumzieht.

Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn.

Und was noch nicht gestorben ist

Das macht sich auf die Socken nun.“

Mit eben diesem Refrain verlässt die Courage am Ende die Bühne durch den dann fast aufgetauten Schneematsch, um weiterzuziehen auf der „Scheißgaß“: sie ist die Alte geblieben, hat nichts dazugelernt. Als gerissene Händlerin braucht sie den Krieg, nicht den Frieden. „Der Friede bricht mirn Hals“, konstatiert sie. Alles, was ihr am Ende bleibt, ist der schwarze Karren, eine Kiste mit der polnischen Aufschrift WSZYSTKO, auf Deutsch: ALLES, die in Düsseldorf tatsächlich alles ist: Supermarkt, Wohnung, Bordell.

Zwischen diesen beiden Szenen ist viel passiert: Als Mutter hat sie alles verloren, zwei Söhne und eine Tochter. Sie brauchte ihr Gewerbe für die ökonomische Absicherung ihrer multinationalen Patchwork-Familie, entschied sich allerdings allzu oft fürs Geschäft, statt für die mütterliche Fürsorge. Es lag Brecht viel daran, dass seine dialektisch angelegte Protagonistin beim Publikum nicht Mitleid, sondern Kritik erntet, dass sie nicht als Niobe, sondern als Verkörperung des kapitalistischen Prinzips gedeutet wird. Die Mutter Courage der Rosa Enskat in Düsseldorf ist keins von beiden, weder die bemitleidenswerte Mutter (wie 1941 in der Uraufführung Therese Giehse, zum Leidwesen des Autors, der die Rolle daraufhin umschrieb), noch die skrupellose Händlerin: allzu indifferent rockt Enskat in heutigem Outfit durchs Geschehen und spielt ihr eigenes Spiel unter den vom Bühnenhimmel herabbaumelnden toten Söhnen, die Opfer ihrer Treuherzigkeit und Gutgläubigkeit wurden und jetzt wohl als Anti-Engel gastieren. Das Ganze ist eher als Groteske angelegt, ab und an zum Comic verfremdet, und verliert dabei teilweise den Brechtschen Anspruch auf belehrendes, episches Theater. Auch Zwischentöne, wie sie die Courage gelegentlich in ihren subversiven Aussprüchen wagt, gehen da unter.

Während der Feldprediger (Rainer Philippi) zur albernen Witzfigur verkommt, die mit einem Holzkreuz wedelt, als müsse sie Vampire vertreiben, macht Cathelen Baumann als abgetakelte Feldhure Yvette mit ihrem komödiantischen Talent eine eigene Revue-Nummer aus ihrem Auftritt, bei dem sie ihr Markenzeichen, die roten Pumps, verliert, die sie allerdings auch nicht mehr braucht, denn sie taucht später, dick ausgepolstert als verwitwete Obristin Starhemberg wieder auf: eine geschmeidige Kriegsgewinnlerin.

Der schauspielerische Star des Abends ist zweifellos Wolfgang Michalek als Feldkoch, Frauenheld und Schmarotzer. Mit Wucht und unglaublicher Bühnenpräsenz ist er - obwohl eher in einer Nebenrolle - ständig im Spiel, schwankt mit brutaler Körperlichkeit und erschreckenden Grimassen zwischen teuflischer Gerissenheit und latenter dämonischer Bedrohung. Der Anspielung auf Corona durch eine Plexiglas-Trennwand bei der Annäherung an Mutter Courage hätte es nicht bedurft, sie wirkt da eher läppisch und aufgesetzt.

Zum Schluss kreisen alle, die Lebendigen und die Toten, pseudo-nackt in hautfarbenen Second Skin Suits auf Rollschuhen mit Glitzerrädern im Kreis, lautes Getöse übertönt den Gesang:

Der Krieg, er zieht sich etwas hin.

Der g’meine Mann hat kein Gewinn…

Der Schnee schmilzt weg, die Toten ruhn!

Und was noch nicht gestorben ist

Das macht sich auf die Socken nun.

Es sind die Kleinen Leute, die Opfer der großen Geschichte, die alles verloren haben, auf die Brecht uns aus der Sicht eben dieses „gemeinen Manns“ schauen lässt. Die Großen kommen nicht vor, weder der Glaubensenthusiast, noch Feldhauptmann oder König, „der seine Leut in die Scheißgaß“ führt, dreht da nackt seine Runden. Dass der Krieg „eine Fortführung der Geschäfte mit anderen Mitteln ist“, zeigt Baumgartens Inszenierung trotz Kürzung und Verfremdung.