Tolle Stadt, Eroberung bedingt erfolgreich
Die neuen Gaukler sind in der Stadt. Julia Wissert, die junge neue Intendantin des Schauspiels Dortmund, ist für die meisten Menschen im Dortmunder Stammpublikum noch ein unbeschriebenes Blatt. Wer ein wenig von ihr gehört hat, der ahnt: Sie wird deutlich andere Schwerpunkte in ihrer Arbeit setzen als der bisherige, höchst erfolgreiche Intendant Kay Voges. Toll, was die Dortmunder Kulturpolitik sich traut: Schon Voges stand vor zehn Jahren für einen krassen Bruch mit den Ästhetiken und Traditionen seines Vorgängers Michael Gruner. Nach einem kurzen Moment der Schockstarre folgte ihm ein Teil des alten Publikums enthusiastisch – und der andere Teil wurde in Windeseile durch neue, jüngere Fans ersetzt.
Wissert will das Schauspiel (noch) näher an die Stadt bringen – und im Idealfall die Stadt näher ans Theater. Auch die Erprobung neuer Formen direkter Partizipation hat sie sich auf die Fahnen geschrieben. Tatsächlich beginnt sie, coronabedingt fünf Wochen vor dem regulären Start des Theaters, gleich mehrfacher Hinsicht mit einer wahren Stadteroberung: „Ein Weg durch die Stadt in fünf Texten und vielen Schritten“ (der Schrittzähler des Rezensenten zählte circa 5000) führt zu alltäglichen und geschichtsträchtigen, vor allem aber prekären Orten der Stadt. Christopher-Fares Köhler, Sabine Reich und Julia Wissert haben vorwiegend eigens für den Theaterwalk geschriebene Texte von vier Autorinnen und einem Autor arrangiert. Mit Ausnahme der Kroatin Ivana Sajko leben diese in Deutschland, haben aber einen unmittelbaren bzw. im Falle des Esseners Akin Emanuel ?ipal mittelbaren Migrationshintergrund – so wie mehr als 35% der Dortmunder Bevölkerung. An den Orten, an denen die drei Wandergruppen des Theaters innehalten, treffen sie automatisch auf „ganz normale“ Passanten. Manche bleiben stehen, lauschen irritiert den – bisweilen recht esoterischen – literarischen Texten und erfahren im Idealfall, dass es ihr Stadttheater ist, das diesen Larry macht…
Gestartet wird aber im Theater. Lucas, Bea und Robin begleiten meine Gruppe auf dem Weg durch die Stadt, sorgen für einen ordentlichen organisatorischen Ablauf und die Einhaltung der Corona-Regeln und bewahren uns davor, an der Fußgängerampel abgehängt zu werden. Unser eigentlicher Guide aber heißt Christoph Heisler und ist „der Phönix“ – der mythische Vogel, der „in der Gleichzeitigkeit aller Zeiten“ lebt, überzeitlich also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und dessen Namen man in Dortmund mit einem klassischen Symbol des Strukturwandels, dem Phoenix-See, in Verbindung bringt. Auch der künstliche See, ein neues Naherholungs- und Wohngebiet auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks, versinnbildlicht den Wandel der Zeiten – für manche Dortmunder sicher sogar die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart. Ansonsten steckt das Überzeitliche ja schon im kompliziert formulierten Titel des performativen Rundgangs: Wir stehen in der Gegenwart und blicken aus der Zukunft auf Vergangenes oder auch mal auf nicht ganz so fern Zukünftiges. Das Intro-Video drückt es einfacher aus: „Schichten um Schichten, Schicht für Schicht reisen wir durch die Zeit.“ Unser treuer Begleiter, der Phoenix, ist der Wächter der fünf „Portale“, der Stationen unseres Wegs. Diese Portale öffnen den Blick auf neue Orte, in andere Zeiten oder aus fernen Zeiten ins Heute. - Nix capito? Macht nichts. Auch der Wanderer zwischen den Dortmunder Welten hat kaum eine Chance, den Texten während des insgesamt dreistündigen Abends inhaltlich oder intellektuell zu folgen, und das nicht nur aus Gründen der suboptimalen Akustik.
Zunächst werden wir im Theater durchs Magazin auf die Bühne geführt. Die Geisterstimmen der fünf Schreiberlinge raunen geheimnisvoll, doch als Zuschauer scharrt man mit den Füßen: Wir wollen raus. Meine Gruppe lief erst nach mehr als 30 Minuten los: hinunter auf die schöne Katharinentreppe gegenüber vom Hauptbahnhof. Vorn der elegante Schlund des renovierten Bahnhofs, rechts die Stadt- und Landesbibliothek, links das Fußballmuseum – und vor uns löst Adi Hrustemovi? irgendwann den Phoenix ab und spricht per Megafon Akin Sipals Text „Die neue Republik“. Der Mangel an Theatertauglichkeit, den der erste längere Text in Julia Wisserts Intendanz aufweist, ist rekordverdächtig. Er endet in einer irgendwie merkwürdigen Dortmunder Utopie. Zuvor glauben wir die Biografien von Migranten und die Missverständnisse im Hinblick auf deren Akzeptanz im neuen Land, verpackt in esoterische morgenländische Poesie, erkannt zu haben. Verstanden haben wir nix. Das macht aber nichts, die Begegnung im abendlichen Stadtraum ist irgendwie – andersartig, also interessant. Zwei junge Männer aus der Stadt partizipieren ungewollt an der Performance: Sie hören ein paar Minuten zu, lachen, finden den Text auch doof und verschwinden in der Nacht. „Eure Vögel waren Enten, aber aus ihrer Asche steigen Steppenadler“, schallt es aus Hrustemovi?s Megafon. Okay, time flies like an eagle, fruit flies like bananas.
Keine Sorge, krauser werden die Texte nicht mehr. Per Bus werden wir auf die andere Seite des Hauptbahnhofs gekarrt, in die prekäre Nordstadt, aber die No-Go-Areas werden gemieden. Der prekärste Ort der Reise wird zum Höhepunkt der Veranstaltung. Wir stehen auf dem Rasen vor dem „Horrorhaus“, einem Paradies für die Freunde der Lost Places. Es ist die größte Schrottimmobilie der Stadt. Das 16stöckige Gebäude mit 102 Wohneinheiten und einer extrem diversen Eigentümerstruktur wurde vor fast 20 Jahren nach mehrjähriger illegaler Nutzung durch die Drogen- und Obdachlosen-Szene wegen massiver Baumängel für unbewohnbar erklärt und steht seitdem leer. Bei einer vorherigen Privatisierung war man einem unseriösen Immobilienentwickler aufgesessen, der die Wohnungen weiterverkaufte – Baumängel trieben die meist türkischen Käufer in die Privatinsolvenz und aus dem Haus. Die Stadt mühte sich über Jahre, die Wohnungen aufzukaufen, und nun steht das Gebäude zum Abbruch bereit – Kostenpunkt: ca. 4,5 Millionen Euro. Vor dem Hochhaus sprechen Sarah Yawa Quarshie, Nika Miškovic, Bettina Engelhardt und Alexander Darkow Texte von Karosh Taha, unter anderem aus ihrem hochgelobten Roman „Krabbenwanderung“, aber auch aus ihren Gesprächen mit verschiedenen Stadtplanern. Anders als zuvor auf der Katharinentreppe haben die Texte deutlichen Bezug zum Schicksal des Hochhauses und seiner Bewohner, sie sind – soweit man sie trotz akustischer Mängel verstehen kann – relevant, interessant sowie in Teilen berührend und changieren zwischen sachlichen Informationen und literarisch überhöhten, aber verständlichen Passagen.
Angeregt marschieren wir weiter voran. Auf dem Platz hinter dem Bahnhof, zwischen Arbeitsagentur und Auslandsgesellschaft werden wir mit Kopfhörern ausgestattet. Zu Ivana Sajkos Text „Become Iron“ tritt auch der Dortmunder Sprechchor auf. Dessen Choreographie verändert die Wahrnehmung des Platzes und scheint den Hintereingang des Bahnhofs trotz einsetzenden Regens zu einem helleren, schöneren Ort zu machen. Der Text ist trotzdem düster: Auch er bezieht sich auf das „Horrorhaus“, in dem die Illusionen einer Migrantenfamilie zertrümmert werden. Aus dem obersten Stockwerk kann man über die Bahnlinie schauen, aus der Nordstadt heraus auf „die glitzernden Fenster der Stadt, / ich sehe deutlich vor mir die Bahnlinie, die mich von ihnen trennt / … / man muss sie nur überqueren.“ Das ist den meisten Bewohnern des Horrorhauses nicht gelungen.
Wir unterqueren die Bahntrasse und begeben uns auf den Platz der alten Synagoge, der gleichzeitig der Opernvorplatz ist. Hier treffen alle drei Wandergruppen wieder zusammen. Die israelische Autorin Sivan Ben Yishai nimmt in ihrem Text, der später auf der Bühne des Schauspielhauses endet, die düstere Geschichte des Ortes auf, die Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung, den Abriss der Synagoge – aber auch die Situation dieses Tages: den Beginn eines neuen Ensembles, einer neuen Zeitrechnung am Theater Dortmund. Eine gewisse Skepsis gegenüber der Vergangenheitsbewältigung ist dem Text ebenso anzumerken wie eine verhaltene Freude über den Beginn einer neuen Zeit – einer Ära, die irgendwann von neuen Helden mit gereckter Faust wieder vertrieben werden wird.
Warum so pessimistisch? Das Versprechen des Phönix zu Beginn unserer Wanderung hatte gelautet: „Ich werde mich mit Ihnen an einen Ort erinnert haben.“ Es werden „die Grenzen, die Widersprüche, ihre Abgeschlossenheit (sein), die … trotzdem ein Ganzes ergeben, ein Bild, das sich eingenistet haben wird als ein Gefühl, das uns in den Bann zog.“ Hat das geklappt? Irgendwie schon: Da ist ein neues Gefühl für die Stadt Dortmund, das wir bisher nicht kannten. Wenn uns in Zukunft nicht nur die Orte, sondern auch die Texte in Herz und Hirn gehen, werden wir die beginnende Zeit dereinst nicht mir gereckter Faust vertreiben, sondern uns ihrer gern erinnern.