Der wahre Sturm der Liebe
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, Edward Albees 1962 entstandenes Stück, hat seinen Titel von der Abwandlung einer Zeile aus dem Lied „Who’s afraid of the big, bad wolf?“ aus dem Walt Disney-Film „Three Little Pigs“ aus dem Jahre 1933. Albee fand den Satz „Who’s afraid of Virginia Woolf?“ auf einem Spiegel in einer New Yorker Bar und hielt dieses Sprachspiel für einen „typischen Intellektuellenwitz“ und somit bestens geeignet für seine im Collegemilieu angesiedelte Zimmerschlacht. Spätestens seit der Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen gilt das Werk mit seinen virtuosen Dialogen als Klassiker des modernen Ehedramas.
Der Kampf, den George und Martha, beide so um die 50, austragen, ist auf den ersten Blick scheinbar ein beispielloser Rosenkrieg, doch zugleich auch ein verzweifeltes Ringen zweier untrennbar miteinander verbundener Menschen. Zwanzig Jahre sind die beiden schon verheiratet. In Marthas Augen ist George ein Versager, der es nicht zum Direktor des Historischen Seminars des Colleges, dessen Präsident ihr Vater ist, brachte. Auch als Mann versagte er, er ist nicht der Vater eines Sohnes. Die beiden haben einen Sohn erfunden, einen Mythos. Die Gespräche über ihn sind es aber nicht. Um die tröstliche Illusion eines Sohnes aufrecht zu erhalten, müssen sie sich einig sein.
Martha und George haben ihren Ehekrieg perfektioniert und ritualisiert, ein permanenter Schlagabtausch, eine endlose Reihe von Demütigungen und Kränkungen. Mit immer lustvoller ausgefeilten Kampftechniken, kennt man doch den anderen und seine wunden Punkte genau. Manchmal kommen die schmerzhaften Treffer fast wie eine Liebeserklärung daher, kommt man doch so dem anderen nah.
Nach einer Party, die Marthas Vater für die Professoren des Colleges und ihre Gattinnen gegeben hat, kehren Martha und George angetrunken heim. Es ist spät, der Abend war lang und anstrengend. Doch Martha hat noch Gäste eingeladen: Den jungen, neuen Biologieprofessor Nick und seine Frau. Doch aus der harmlosen, mitternächtlichen Party wird ein gnadenloser Kampf, ein Krieg mit kleinen Triumphen und großen Niederlagen. Bindungen bzw. Hemmungen, die das Verhalten in Gesellschaft üblicherweise regeln, werden nach und nach abgeworfen. Mit den Hemmungen fallen auch die falschen Fassaden, die übertünchten Identitäten, der „Amerikanische Traum“ zeigt Risse. Die Gäste werden bei obskuren Spielen ungewollt zu Zuschauern, wahlweise Verbündeten oder Opfern.
Karsten Dahlem, der in der letzten Spielzeit eine packende Peer Gynt – Inszenierung in der Casa auf die Bühne brachte, inszenierte Wer hat Angst vor Virginia Woolf? jetzt auf der Bühne des Großen Hauses. Die durch Corona bedingten Abstandsregeln haben die Inszenierung in keiner Weise eingeschränkt. Da es nötig war, andere Lösungen für die Darstellung des Beziehungskrieges zu finden, wurden – so der Regisseur – neue Ideen und Energien durch den Umgang mit dem Abstandsgebot freigesetzt.
Die Bühne ist zu Beginn ein weißer Kasten mit einer Glasscheibe zum Publikum hin. Es gibt keine Requisiten, nur ein weißer Kühlschrank steht am Rande, unentbehrlich für die alkoholischen Getränke. Im Laufe des Abends verändert sich die Szenerie äußerst kreativ. Wände werden verschoben, Ausblicke auf die Hinterbühne mehr und mehr sichtbar. Zum Ende ist das anfängliche Bühnenbild gänzlich verschwunden.
Ines Krug (Martha) und Jan Pröhl (George) spielen umwerfend die Protagonisten in diesem Ehekrieg. Jede Minute überzeugend in der gegenseitigen Zerfleischung, aber auch immer in der trotz allem vorhandenen Verbundenheit. Martha (zuerst in einem rasanten roten Hosenanzug) ist laut, ordinär, aggressiv. George gibt sich wesentlich zurückhaltender („Du verdammtes, zerstörerisches Weib!“), dann aber wird er immer aktiver im Arrangieren verletzender und entlarvender Gesellschaftsspiele wie „Gib‘s dem Gast“ und am Schluss „Lass das Baby aus dem Sack“.
Nick wird von Alexey Ekimov sehr gut verkörpert als ehrgeiziger Jungakademiker, der ein paar Professorengattinnen „knallen“ will, wenn es seiner Karriere dienlich ist. Lene Dax gibt seine Frau “Süße“. Blond, scheinbar unbedarft mit einem Hang zu Brandy. Nicks Heirat war eine Vernunftehe und sie will keine Kinder. Auch das wird schonungslos offengelegt. Dahlem hat dem imaginären Sohn Marthas und Georges ein Gesicht verliehen. Finn Brüggemann singt ein melancholisches Lied, begleitet am Klavier von Hajo Wiesemann. Ein sehr guter Regieeinfall, betont er doch die tiefen Emotionen des Paares. Zum Ende zelebriert George eine Art Totenmesse – fast wie ein Conférencier durch ein Mikro sprechend -, hat er doch, wie er behauptet, ein Telegramm mit der Todesnachricht des Sohnes bekommen. Äußerst berührend Marthas Verwandlung zu sehen: verzweifelt, aber sich letztlich bewusst werdend, dass nur George sie in ihrem Leben glücklich gemacht hat. Mit dem Tod des erdichteten Sohnes wird der Weg frei für ein aufrichtigeres, qualfreieres Verhältnis der beiden.
Der Regisseur erklärte sehr treffend, warum man von diesem Theaterklassiker so bewegt wird: „Viele Dinge, die Martha und George verhandeln, kennt man doch aus seinem eigenen Umfeld. Man vergisst, was man am anderen einmal toll gefunden hat.“
Ein fantastischer, berührender Theaterabend mit einem exzellenten Ensemble, den man nicht versäumen sollte.