Übrigens …

Nora im Köln, Schauspiel

In der pseudo-liberalen Scheißwelt

Kennen Sie noch den alten Kraftwerk-Hit vom Album „Die Mensch-Maschine“? „Sie ist ein Model und sie sieht gut aus…“. - Sophia Burtscher spielt Ibsens Nora in Robert Borgmanns Inszenierung am Schauspiel Köln. „Schmetterling“ nennt Gatte Torvald sie; Ibsen fand andere ornithologische Kosenamen. Aber Burtscher ist weder Singvögelchen noch Zwitscherlerche. Eher mag man sie mit der Vogelschar vergleichen, die Borgmann in ausgestopftem Zustand in die coole, technisch anmutende Optik seiner Bühnenkonstruktion geschmuggelt hat: mit Falken, Raben und ähnlichem Getier. Nora kann ein Greifvogel sein, der sich nach Belieben die Männer krallt (gleich in einer der ersten Szenen vögelt sie dezent, aber im Domina-Stil mit Alexander, der von Sean McDonagh gespielten Reinkarnation von Ibsens Dr. Rank). Gegenüber Frauen ist sie eher bissige Stute, wie ihre überraschend auftauchende Jugendfreundin Kristine schnell erkennen muss. Und doch bedient Nora so manches weibliche Klischee. „Sie stellt sich zur Schau für das Konsumprodukt/Und wird von Millionen Augen angeguckt…“, heißt es bei Kraftwerk. Häufig läuft sie im hautengen Nude Suit herum. Wie ihre Vorgängerin aus dem Jahre 1879 ist sie ein Modepüppchen. Allerdings darf man davon ausgehen, dass die Einkaufstaschen von Louis Vuitton, Dior und anderen High End Modelabeln, die sie umherträgt, nicht nur selbst bezahlte Einkäufe beinhalten, sondern auch etwas, was man in der Brauereiwirtschaft als Deputat bezeichnet. Denn die Nora des Jahres 2020 ist Model. Außenwirkung und ein Dasein als C-Promi gehen ihr über alles. „Im Scheinwerferlicht ihr junges Lächeln strahlt/Sie sieht gut aus, und Schönheit wird bezahlt…“

Genug mit Kraftwerk, denn der Song kommt in der Kölner Inszenierung gar nicht vor. Im Kopf des Betrachters vielleicht schon. Wie schon bei Becketts Warten auf Godot am Schauspiel Frankfurt (siehe http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2019/02/fft-bn-warten-auf-godot.html) lässt Borgmann das Stück in einem Atelier spielen. Der blendend weiße Kubus ist das Fotoatelier ihres Mannes, des Creative Directors Helmer, den Peter Miklusz als schluffig im Künstlerlook daherkommenden Modefotografen gibt. Etwas trottelig schlurft er durch sein Revier, ein armseliges Künstlerwürstchen mit hängenden Schultern, kaum in Form gebrachter Langhaarfrisur und wenig Blickkontakt. Doch der Mann ist erfolgreich, sein nachlässiges Outfit möglicherweise exakt auf Außenwirkung kalkuliert. Bei Helmers dürfte nichts dem Zufall überlassen sein: Ihre Welt - vor allem Noras Welt - ist das Universum der sozialen Netzwerke, von Facebook, Twitter und Instagram. Erfolgreiche Influencer können da eine Menge Geld verdienen. Furchtbar oberflächlich ist diese Welt auch - so wie das Leben der Original-Nora zu Beginn von Ibsens Drama.

Nora gilt vielen als ältestes Emanzipationsdrama der Theatergeschichte. Die Transposition von Noras Puppenheim ins Fotostudio eines Modefotografen ist schlüssig. Models, Instagram-Beauties - das sind hübsche Girls und (vereinzelt) Boys, die ihre Körper den Blicken und der Bewertung der Außenwelt aussetzen. Diese Blicke, diese Bewertungen, so behaupten es zumindest die Frauenrechtler, denen dieser Beruf als besonders krasses Beispiel für misslungene Emanzipation gilt, entstammen einer typisch männlichen Perspektive. Auch wenn das Publikum bei Modenschauen oder unsäglichen Casting Shows wie „Germany’s Next Topmodel“ vorwiegend weiblich ist, lautet die Forderung: Die Damen müssen, ob sie’s wollen oder nicht, zwingend befreit werden. Dass Body-Kult und Model-Welt, Twitter und Instagram zumeist von erbärmlichem geistigem Niveau geprägt sind, kommt hinzu. Borgmann hatte im Vorfeld seiner Frankfurter Godot-Inszenierung in einem Interview von der „Sehnsucht nach einer ständigen Hyper-Aktualität (gesprochen), die in Wahrheit eine Amnesie ist.“ Die Aussage könnte auf Borgmanns Nora-Universum ebenfalls zutreffen.

Nora fühlt sich in Robert Borgmanns Inszenierung scheinbar wohl in ihrer Rolle. Sie führt eine offene Ehe, findet alles crazy und hip und haut ihrer verarmten Freundin Kristina (Katharina Schmalenberg) zur Begrüßung eine Eloge auf den Reichtum als Weg zum Glück um die Ohren: „Ist es nicht toll, wenn man wirklich viel Geld hat?“ Keine Frage: Nora steht im Scheinwerferlicht. Doch ist die stets etwas überdreht auftretende, sich selbstbewusst gebende junge Frau „befreit“ im Sinne des Feminismus? Die Mutter dreier süßer, aber etwas zombiehafter Kinder hat „drei happy pregnant Nora pictures gepostet“, doch mehr tragen die Blagen nicht zu ihrem Glück bei. Sie werden - in grandiose Pyjama-Kostüme mit an Aluhüten baumelnden Spielzeugen gekleidet - von Kindermädchen Zuzanna an der Leine hereingeführt und sind perfekt darauf abgerichtet, nicht zu stören. Die Ehe wird mehr von äußerem Schein als von innerer Liebe getragen: Dem schluffigen Fotokünstler Helmer sind Beruf und Status wichtiger sind als das Familienleben und die Selbstverwirklichung seiner Partnerin. Das ist bei Sophia Burtschers Nora kaum anders. Schnell stellt sich heraus, dass Noras Behauptung vom Glück im Luxusleben eine Lebenslüge ist: Um das Selbstbild der selbstbestimmten erfolgreichen Frau aufrecht zu erhalten, muss Nora verdrängen.

Und zwar nicht nur Helmers ich-bezogenes Weltbild und seine aus der Position des Fotografen gegenüber dem Model resultierende Macht. Es gibt Schlimmeres: Nora hat „etwas Unüberlegtes getan“, wie Kristine Linde gleich erschnüffelt. Zur Erlangung eines Darlehens zur Finanzierung von Helmers Burnout-Kur hat sie eine Unterschrift gefälscht. Das kommt Ihnen bekannt vor? Ja, trotz der krassen Aktualisierung des Settings gelingt es Robert Borgmann, Ibsens 140 Jahre alten Plot nah am Original zu erzählen. Die gängigen Kommunikationsmedien sind nicht mehr Briefe, sondern E-Mail und Twitter, aber ansonsten haben sich berufliche Abhängigkeiten, patriarchalische Verhaltensweisen und kleine Betrügereien, die zu großen Erpressungen führen, kaum geändert. Dass die Rücksendung des Original-Vertrages im digitalen Zeitalter keine Gewähr mehr dafür bietet, dass der Beweis für die Urkundenfälschung aus der Welt geschafft ist, hat Borgmann geflissentlich übersehen - gern schaut man in der unterhaltsamen Aufführung über diesen lässlichen Denkfehler hinweg. Etwas betrüblicher ist der Bedeutungsverlust der Nebenfiguren und -handlungen, der den krassen Kürzungen geschuldet ist: Die bei Ibsen ein spannendes Eigenleben entwickelnden Figuren des Dr. Rank (hier Alexander), Krogstad (hier Nils) und Kristine dienen fast ausschließlich der Konturierung von Noras Charakter und der Beförderung des Plots. Merkwürdig und sicher ungewollt: In der ausgeflippten, oberflächlichen Künstler- und Social-Media-Welt wirken Helmers moralische Grundsätze, die gegen eine Förderung des gescheiterten Influencers Nils sprechen, weniger spießig und herzlos als in Ibsens Original, das einer viel prüderen und engstirnigeren Zeit entstammt. Alexander Angeletta hat allerdings auch nur wenig Möglichkeiten, seinem verdrucksten Nils Facetten zu verleihen, die ihm die Empathie des Publikums einbringen.

Mit dem White Cube ist Borgmann, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, ein in doppeltem Sinne glänzender Coup gelungen. Es ist ein kaltes, leeres, nichtsdestotrotz elegantes Ambiente, in dem sich der Fixstern Nora und ihre menschlichen Satelliten bewegen. Wie schon in der intellektuell überzeugenderen Frankfurter Godot-Aufführung greift Borgmann auf Motive aus der Bildenden Kunst und eine - hier etwas rätselhafte - Symbolik zurück. Eine auffällige, im Weiß des Kubus aufgeklebte Blutlache, ein an den Hufen aufgehängter Tierkadaver, dem die Haut abgezogen wurde und auf dessen Bauch Torvalds Assistent (Justus Maier) minutenlang unbeweglich liegt wie ein Toter mögen an die Bilderwelten von Francis Bacon, beispielsweise seine „Studie eines Stierkampfs“ denken lassen: Die Bilder geben mehr Anlass zum Nachdenken als die Dialoge.

Natürlich gelingt Nora am Ende die Emanzipation von Body-Kult und Model-Welt. In einem langen Showdown kommt es zur Abrechnung mit Helmer, der wie bei Ibsen sexuell übergriffig wird, kaum dass die Gefahr der Desavouierung durch Noras Unterschriftenfälschung gebannt ist. Nora verlässt ihren Mann, lässt ihre Kinder abschiedslos zurück und erscheint genauso selbstsüchtig wie zu Beginn. Helmer bleibt in seiner, wie Nils sie nicht unzutreffend definiert hatte, „pseudo-liberalen Scheißwelt“ zurück: entzaubert, nackt und allein. Die Kinder interessieren ihn genauso wenig wie sie seiner verloren gegangenen Gattin am Herzen gelegen hatten.