Pistole, Bleistift oder Knoppers?
„Wer will schon Chaos, wenn er Kontrolle haben kann?“, fragt der Kommentator, der das Spiel immer wieder unterbricht, am Ende unseres „konspirativen Audiowalks“ vor der Mülheimer „vier.zentrale“. Jean-Paul Sartres Politkrimi Die schmutzigen Hände geht zu Ende; die Partei schickt sich gerade an, mit Hugo auch den zweiten Protagonisten des Dramas zu eliminieren. Ob er erschossen wird oder nicht, lässt Tobias Stöttners Inszenierung offen, aber eines hat der junge Assistent, der mit diesem Abend ein beeindruckendes Regie-Debüt hinlegt, anhand eines einfachen physikalischen Experiments demonstriert: Je weniger Einflussfaktoren auf eine Konstruktion einwirken, desto stabiler und vor allem berechenbarer ist sie. Also: Wenn Chaos droht, Köpfe ab! Je mehr Personen mit eigenem Willen und eigenen Konzepten auftreten, desto weniger ist man gegen unliebsame Überraschungen gefeit. Eliminiert man die Parteimitglieder, deren Überzeugungen nicht mehr zur aktuellen Parteilinie passen, so eliminiert man auch diese Überzeugungen, und die Partei ist wieder stabil und berechenbar. (Dass die SPD seit Jahren vergeblich versucht, sich mit diesem Rezept aus dem Sumpf zu ziehen, vergessen wir mal schnell - das gehört nicht hier her.)
Resümieren wir noch einmal kurz, worum es in Die schmutzigen Hände eigentlich geht. Hugo, Idealist und Ideologe, kompromisslos und weichherzig, sieht die Durchsetzung der kommunistischen Parteilinie und die Glaubwürdigkeit der Partei in Gefahr, weil der Parteisekretär Hoederer sich als Pragmatiker entpuppt: Um Hunderttausende von Kriegsopfern zu vermeiden, ist Hoederer bereit, mit Nationalisten und reaktionären Kräften des Gegners zu paktieren. Was das für die Partei bedeutet, ist klar: Verrat. Hugo bietet sich an, Hoederer zu töten. Um näher an ihn heranzukommen, tritt er in die Dienste Hoederers. In seinen Gesprächen mit dem Funktionär treffen aufeinander: ideologischer Tunnelblick, verbunden mit großem Idealismus, und politischer Pragmatismus, der, die Komplexität von Realpolitik erkennend, auch Ideale über Bord zu werfen bereit ist. Hoederers Argumente sind überzeugend, Hugos Prinzipientreue gerät in Gefahr. Er zögert, seinen Mordauftrag auszuführen. Als er Hoederer schließlich doch noch erschießt, geschieht dies nicht aus politischen Gründen, sondern aus Eifersucht.
Stöttner lässt das Stück mit nur drei Schauspielern in den Räumlichkeiten der Mülheimer vier.zentrale spielen, die Bürgern der Stadt sowie Vereinen und anderen Zusammenschlüssen zur Umsetzung eigener Projekt- oder Veranstaltungsideen zur Verfügung stehen. Einzelne Szenen spielen auf der Straße vor dem Gebäude, auf der sich auch die Zuschauer versammeln. Man sieht den Schauspielern durch die Fensterscheiben oder über TV-Bildschirmen zu und lauscht den Texten über Kopfhörer. Die Zuschauer, so ist der Gedanke, belauschen und überwachen die Akteure wie Agenten, wie Überwachungspersonal eines Geheimdienstes oder der Staatssicherheit. Viel spannender aber ist der analytische Zugriff, den Stöttner auf das Stück anwendet. Er inszeniert es - teilweise unter Einbeziehung des Publikums - wie eine Versuchsanordnung.
Da ist zum einen die Geschichte mit dem Pendel: Immer wieder wird die Erzählung des Sartre-Dramas unterbrochen, um auf den TV-Bildschirmen zu demonstrieren, wie sich ein Pendel verhält, dem weitere starre Pendel-Teile hinzugefügt werden. Ist das Ursprungs-Pendel berechenbar, so werden die Bewegungen mit jeder Erweiterung um neue starre oder bewegliche Teile chaotischer. Man begreift: Die gleichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gelten im menschlichen Zusammenleben - und gelten vor allem in der Politik: Mit jedem neuen Akteur, aber auch mit jedem neuen Problemfeld („Sachzwang“ würde man heute vielleicht sagen) steigt die Komplexität einer politischen Entscheidung. „Alternativlos“ ist nix. Starre Haltungen mögen einfach für den Ideologen sein, sind aber vom Übel für die Erreichung einer ausgewogenen, für alle Teile der Gesellschaft akzeptablen Balance. Solche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gelten aber auch für das einzelne Individuum, auf das ebenfalls widersprüchliche Faktoren einwirken: politische und private Interessen, Prinzipien und Neigungen, Freundschaft und Hierarchien, Liebe und Machtstreben, Ängste und die Suche nach Anerkennung und vieles anderes mehr.
Zu Beginn wird das Publikum gebeten, sich in drei Gruppen zu sortieren. Es hat die Wahl zwischen Pistole, Bleistift oder Knoppers. Sie ahnen, worauf das hinausläuft: Hugo, der kompromisslose Ideologe - wenn Sie wollen, auch gern: Idealist - wird für sich vermutlich die Pistole wählen: die unbedingte Durchsetzung der Parteilinie. Hugo, der Mann mit dem weichen Herzen, wird bald die Schwierigkeiten erkennen, die seine Wahl mit sich bringt. Und Hugo wird die Welt und die Zukunft trotz seines leuchtenden ideologischen Ziels mit Pessimismus betrachten: „Lüge - das ist das einzige, das übrig bleiben wird“, äußert er einmal im Gespräch mit seiner Frau Jessica , und man hat nicht den Eindruck, dass diese Einschätzung nur auf eine Zukunft unter dem kompromissbereiten Hoederer gemünzt ist.
Geschickt arbeitet die Inszenierung den Widerspruch zwischen pragmatischer Politik und dogmatischer Ideologie heraus. Wenn die Partei Hugo, der ihrem Ideologiewechsel nicht mehr folgen mag, am Ende liquidiert, herrscht zwar - vielleicht - vorübergehend wieder Ordnung. Doch es herrscht das Dogma, Gesinnungsterror statt Debattenkultur. Der Pragmatiker Hoederer weiß, dass er schmutzige Hände hat: „Reinheit ist ein Hirngespinst von Mönchen und Fakiren.“ Gegenseitige oder auch einseitige Abhängigkeiten sind zu berücksichtigen (was die Inszenierung ebenfalls anhand des Publikumsverhaltens überzeugend demonstriert), Emotionen wie Wut oder Enttäuschung, der Aufbau von Vertrauen oder die Reaktion nach dem Verrat. Es gilt, das Chaos zu beherrschen, so gut es geht, und Kompromisse zu schließen für das Wohl der Menschheit. Die Mehrheit des Publikums hat zu Beginn in weiser Voraussicht den Bleistift gewählt: den Kampf mit Hilfe der Kraft des Wortes, den Kampf in einer - hoffentlich fairen - Verhandlung. Der Kampf mit dem Bleistift lässt Kompromisse zu, auch Korrekturen einer als falsch oder suboptimal erkannten Strategie. Vor allem aber vermag man mit dem Bleistift zu überzeugen anstatt zu erpressen, zu unterdrücken oder zu töten. „Das Wort ist stärker als die Gewalt. Der Stift könnte auch Ihre Zukunft sein“, tönt es im Kopfhörer denjenigen entgegen, die sich zu Beginn für die Pistole entschieden haben, und die erkennen, wie sich Hugo verrennt.
Wer aber bei der Entscheidung zwischen Pistole, Bleistift oder Knoppers die Milchschnitte wählt, macht sich der Unterlassung schuldig. Er mischt sich nicht ein, selbst wenn unsere Werte bedroht sind. In Mülheim waren das nur wenige, in unserem Alltag ist es vermutlich die Mehrheit. Wahrscheinlich ist es auch da die schlechteste Wahl.