Ein Comic als Reflexionsfläche für Jedermann und Jedefrau
Vorne im abgedunkelten Theatersaal ein riesiges, pinkfarbenes Leuchtstoffherz. Dann werden es mehr: ein Tunnel auf flimmernden Herzen im Herzen zieht sich in die Tiefe der Bühne und unter lautem Getöse steigt eine schwankende Figur durch das letzte, kleinste Herz auf die Bühne.
Sie ist Schriftstellerin, skizziert den Plot ihres zweiten Romans, in dem ein zwölfjähriges Mädchen in der Badewanne von ihrem ersten Orgasmus überwältigt wird, sich dabei vier Zähne ausschlägt und am Ende mit einem Tigerbaby im Arm ihre Eltern belügt. Dabei gleitet der Bericht in einen Dialog über. Der aber wird nicht von den erwähnten Figuren geführt, sondern von der Erzählerin und vier weiteren Figuren, gleichsam ihren Doppelgängerinnen, die einander die Satzfetzen wie im Pingpong zuspielen. Sie alle tragen gelackte rote Blusen mit großen weißen Bubikragen über langen schwarzen Lackröcken, dazu uniforme schwarze Käppis über stark geschminkten Gesichtern: Sie alle sind Olive Oyl, der hundertjährigen Comicfigur nachempfunden, die in der deutschen Stückversion Olivia Öl heißt. Die Fünfstimmigkeit der Protagonistin ist von der Autorin vorgegeben und bildet nicht zuletzt die Vielschichtigkeit dieser Bühnenfigur ab, die sich weit von ihrem Comic-Vorbild entfernt. Doch das ist noch nicht Thema dieses kleinen Vorspiels, das allerdings wichtige Spuren vorgibt: Es wird verletzend, schmerzhaft, schamlos, verlogen zugehen und am Ende wird der kleine Kuscheltiger zur wildwütenden Raubkatze anwachsen.
Doch zunächst gibt’s Bestandsaufnahmen. „Ein paar Fakten über Popeye den Seemann“ steht als Zwischenüberschrift im Text und der Regisseur und Bühnenbildner Jakob Weise schickt seine fünf Olivias an den Bühnenrand, um - jeweils mit einem dicken Mikrofon in der Hand - ihren Kommentar zum männlichen Stück-Helden abzugeben, der allerdings im ganzen Stück nicht auftreten wird und auf den wir ausschließlich aus der weiblichen Perspektive schauen werden. Im leicht-lockeren, scheinbar wohlwollenden Ton entwerfen sie das Bild einer stereotypen Comicfigur als „gerecht, ehrlich, unkompliziert und optimistisch“, gar als „feministischen Softie“.
Allerdings verströmt der Popeye des Stücks seinen Pfeifenqualm rücksichtslos, beansprucht bis zu drei Plätzen für sich, stopft Spinat in sich hinein, um die Muskeln aufzupolstern und das Bild eines muskulösen, tätowierten Supermanns abzugeben, der von seiner glücklichen Kindheit und einer Zukunft als Filmregisseur träumt. Da hat der informierte Zuschauer - auch ohne Bebilderung - schon ein Beispiel toxischer Maskulinität vor Augen.
Doch zunächst wird noch Olivia vorgestellt: eine erfolgreiche, preisgekrönte Autorin, die sich allen gutgemeinten Ratschlägen von Mutter und Großmutter zum Trotz als emanzipierte Frau, als Feministin versteht. Als „heiligen Dreifaltigkeit“ ihrer Selbständigkeit galt bisher, mit einem Mann niemals gemeinsam zu haben:
1. ein Kind
2. eine gemeinsame Wohnung
3. ein gemeinsames Bankkonto.
Die beiden begegnen sich im Sprachkurs: sie die Ältere, Überlegene erklärt ihm, dass sein ungetreuer Freund als Nemesisfigur einerseits Feind andererseits auch Grund zur Stärke sein kann. Da fällt ihm die Spinatdose aus der Hand und der Kiefer runter.
Dann aber wendet sich das Blatt. Olivia nähert sich in ihrer Selbsteinschätzung mehr und mehr der Comicvorlage an, der spindeldürren, nervigen Olive Oyl: sie schämt sich ihres Körpers, redet Popeyers Schwächen schön, unterwirft sich seinen Sexpraktiken. Redet sich ein, dass sie stolz sein müsse auf diesen Lover, denn sie teilt mit ihm schon (ihre) Wohnung und (ihr) Bankkonto. Doch noch unterdrückt sie ihre Unzufriedenheit, kriecht stattdessen allmählich in die von Mutter und Großmutter gepredigten Verhaltensmuster und Rollenklischees, ist entschlossen, jedes Drama zu vermeiden, vielmehr „das supportivste Girlfriend ever zu sein“.
Inzwischen pulsieren die Neon-Herzen in allen Farben und Größen, raumfüllendes Dröhnen droht die Texte zu verschlucken und Olivias Verdrossenheit nimmt zu. Genervt und frustriert wird ihr langsam klar, dass es ihr inzwischen wichtiger ist, frei zu erscheinen, als wirklich frei zu sein. Vier Olivia-Figuren verschwinden, eine bleibt und beginnt, ihren Unmut von Popeye weg auf die ganze Welt umzulenken: auf die Familie, die Medien, die Präsidenten, auf uns, das Publikum. Dabei verlässt sie die Erzählform und spricht die Zuschauer ganz direkt an: „Für eine 20-Euro-Theaterkarte habt ihr uns mit euren Augen ausgezogen und unsere Brüste gescheckt wie Früchte im Supermarkt!“
Nach dieser Publikumsbeschimpfung in bitterbösem Ton sind etwa Zweidrittel des Stückes um und die Möglichkeiten des heteronormativen Mit- und Gegeneinanders scheinen ausgelotet. Trotz der lustvoll-radikalen, rhythmischen Sprache erscheint auch das dramatische Potenzial der Inszenierung ausgereizt: belustigt, empört, beschämt, nachdenklich oder selbstkritisch könnte man nach Hause gehen. Man hat’s verstanden.
Dann der 2. Akt: Die Comic-Olive im Lack-Outfit ist verschwunden, aus den Herzspalten treten fünf frivole Individuen: eine Blonde im Kleinen Schwarzen mit tiefem Dekolleté (Ragna Pitoll), eine Rotblonde im Plisseelook (Almut Henkel), ganz kess in Mini-Shorts eine Tänzerin (Tala Al-Deen), ein Vamp (Sarah Zastrau) und ein eleganter Jüngling (Rocco Brück). Mit unglaublicher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit sprechen sie die krassen Texte, die ihnen die Israelin Sivan Ben Yishal auf Englisch ins Textbuch schrieb und die von Maren Kames in engster Zusammenarbeit mit der Autorin ins Deutsche übertragen wurden. Bis in die letzten, schmerzhaften Einzelheiten werden die Ermittlungen des weiblichen Sexbedürfnisses vorangetrieben, in direkter, provozierender Sprache werden ausschweifende Cunnilingus-Phantasien (ohne lateinische Verbrämung) und andere Sexpraktiken als „argumentative Übung“ mit vielen Sprachvarianten, endlosen Wiederholungen und begleitenden Gesten durchexerziert und wütend, ohne Angst vor Tabubruch eingefordert.
Das alles endet in einem Fiebertraum, der die Motive des Prologs aufnimmt: Die einsame Frau verwandelt sich in eine rasende Tigerin, die nachts durch die Bars tobt und mit ihren Aktionen die Pornoseiten im Netz füllt. So gerät das private ins öffentliche, politische Geschehen und wird zur möglichen Reflexionsfläche für Jedefrau und Jedermann
Sivan Ben Yishai schreibt das Stück nicht in klassischer Figurenrede, setzt vielmehr selbst die Dialoge in die 3. Person, was zweifellos eine gewisse Distanz zum verhandelten Stoff schafft, wenn auch im zweiten Teil kaum noch chorisch, sondern vorwiegend monologisch gesprochen wird.
Die virtuose, schauspielerische Leistung, das geniale Bühnenbild und eine intelligente Regie machen aus dem provokanten Lehrstück einen grandiosen Theaterabend.