Herkunft – biographischer Zufall oder Prägung?
Sasa Stanisic stammt aus Bosnien.
Upps, schon ins Fettnäpfchen getreten. Saša Stanišic wurde als Sohn einer bosnischen Mutter und eines serbischen Vaters im bosnischen Kleinstädtchen Višegrad geboren. Seine Mutter war Muslimin, wiewohl nicht besonders religiös. Im Alter von 14 Jahren floh er mit seiner Familie vor den Wirren des jugoslawischen Bürgerkrieges nach Deutschland. Seine Eltern (Mutter Politikprofessorin, Vater Betriebswirt) arbeiteten hier in einer Wäscherei respektive auf dem Bau; sie wurden 1998 als Flüchtlinge aus sicherem Herkunftsland abgeschoben und emigrierten in die USA. Saša durfte bleiben, u. a. weil eine gütige Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde den angestrebten Beruf des Schriftstellers als eine Tätigkeit mit sicherem Einkommen zu bewerten bereit war. Er gewann im Jahre 2019 den Deutschen Buchpreis für seinen autobiographischen Roman „Herkunft“.
Saša Stanisic ist also ein deutschsprachiger Schriftsteller, der in der heute in Bosnien-Herzegowina gelegenen Kleinstadt Višegrad geboren wurde. Seine Herkunft scheint er weniger in Bosnien als vielmehr in Jugoslawien zu verorten: In Staniši?s Buch ist eine Trauer über den Untergang des Landes spürbar, in dem das Miteinander für den jungen Heranwachsenden bis zu den sinnlosen nationalistischen und ethnischen Konflikten Anfang der 1990er Jahre scheinbar gut funktionierte. Der junge Saša war glühender Fan von Roter Stern Belgrad – bis dass man das irgendwann nicht mehr sein durfte, wenn man die falsche Herkunft hatte. Heute ist der Schriftsteller Stanisic Fan des Hamburger SV, was zweifellos ebenfalls schmerzhaft, aber bezüglich Nationalität, Ethnie oder Religion unverdächtig ist. Im Jahre 2009 fährt er mit seiner Großmutter nach Oskoruša, einem abgelegenen Bergdorf von nur noch dreizehn Einwohnern, aus dem sein Großvater stammt und in dem der Name Staniši? auf nahezu jedem Grabstein steht. Der alte Gavrilo fragt ihn, woher er komme, und Staniši? holt weit aus, um die Frage einzugrenzen. „Du kommst von hier“, sagt der alte, noch immer in dem Dorf lebende Verwandte. - So einfach ist das mit der Herkunft.
Herkunft sei Zufall, hat Stanisic einmal behauptet. Damit hat er zunächst einmal Recht. Sie sei „eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist“, und als solches sei sie Fluch oder Segen, heißt es im Roman. Den Gedanken, dass Herkunft auch Eigenschaften mit sich bringen würde, könne er nicht nachvollziehen. Und doch schimmert auf vielen Seiten seines Buches durch, dass Herkunft Prägungen mit sich bringt: kulturelle Prägungen, Erfahrungen, vielleicht gar Traumata. Auch andere „Herkünfte“ werden in Staniši?s Roman beleuchtet: die der multikulturellen und sehr empathisch gezeichneten Clique von der ARAL-Tankstelle im Heidelberger Vorort Emmertsgrund, in dem seine Familie nach der Flucht eine erste neue Heimat fand. Die Tankstelle ist „Heidelbergs innere Schweiz“, in der Herkunft keine Rolle spielt, aber die Schicksale der Jugendlichen doch alle davon gezeichnet sind. Staniši? ist ein junger, intelligenter, ungemein positiv denkender Mensch, der die Prägungen der Herkunft leicht ablegen kann und sich schnell in neuen Umfeldern integriert. Doch er beschreibt auch, dass Herkunft zur Projektionsfläche werden und Selbst- und Fremdbild beeinflussen kann. Was, so fragt Stanisic auch in seinem Buch, hat Herkunft mit Identität zu tun? Was bedeutet sie im gesellschaftlichen und sozialen Kontext?
Gespiegelt wird dieses Thema zudem in der Rahmenerzählung des Romans, in der Geschichte der zweiten Hauptfigur neben dem Ich-Erzähler. Je mehr sich Letzterer seiner Herkunft und seiner Identität gewiss wird, desto mehr verliert seine demente Großmutter ihre Erinnerung und ihre Verankerung in der eigenen Geschichte. Damit geht einerseits ihre Selbstsicherheit verloren, andererseits klammert sie sich störrisch an einzelne, kaum noch zu verifizierende Erlebnisse.
Kunterbunt mischt Stanisic bei der Schilderung seiner Lebensstationen und Erinnerungen die Schreibstile und Stimmungen: Da geht es mal reflexiv und mal witzig, mal einfühlsam und mal nachdenklich, mal melancholisch und mal kabarettistisch zu. Mosaikartig und weitgehend ohne chronologische Reihenfolge gleicht die Erzählung einem Episodenroman. Sascha Hawemann folgt in seiner Inszenierung am Theater Oberhausen der Struktur des Buches. Der 360 Seiten lange Roman wird ohne inhaltliche Verluste in zwei Stunden 45 Minuten auf die Bühne gebracht. Das geht naturgemäß zu Lasten einer Fokussierung auf bestimmte Schlüsselszenen. Insbesondere wird der Begriff der Herkunft in der Oberhausener Aufführung enger definiert und weniger differenziert betrachtet als im Roman. Schon die gewollt unfertig wirkende Bühne von Wolf Gutjahr zeigt, dass sich die Inszenierung vor allem auf die geographische und ethnische Dimension des Begriffs konzentriert: Sie wird bestimmt von den Resten eines verfallenen Bahnhofs, auf dem in kyrillischer Schrift der Name der Stadt Višegrad zu entziffern ist, und einem Bild des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Tito, der zwar nicht gerade ein Ausbund an demokratischem Leader war, aber bei der Großmutter Heldenstatus hat. Bahnhof und Tito sind Beispiele für verblassende, aber prägende Erinnerungen, Sinnbilder für Herkunft, Aufbruch und Verharren. Dagegen werden die Episoden von der ARAL-Clique, in denen die Bedeutung von Herkunft noch einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet wird, auf 90 Sekunden zusammengestrichen.
Die Auswirkungen von Herkunft auf die Integration im neuen Land und ihre gesellschaftspolitischen Dimensionen werden eher peripher angesprochen (etwa die Traumatisierung von Dedo, der die schrecklichen Erlebnisse auf seiner Flucht nicht verarbeiten kann, die Minderwertigkeitskomplexe des gut ausgebildeten Vaters, der als nicht anerkannter Flüchtling in Deutschland nur noch als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeiten kann, der frühere Heimatverlust des Leipziger Lehrers). Vieles geht unter im rasenden Tempo, mit dem die meisten Schauspieler durch den Text hetzen. Dass gelegentliches Innehalten und etwas mehr Besinnlichkeit vielen Szenen gut getan hätten, beweisen die Akteure, denen dies am besten gelingt: Lise Wolle vor allem, die sich mit Anna Polke die Rolle der Großmutter teilt, Clemens Dönicke als Vater sowie Agnes Lampkin. Polke spielt die Großmutter tolpatschig und burschikos, aber nicht ohne Witz, wobei die häufig burleske Ästhetik der Inszenierung dem feinsinnigeren Humor der Romanvorlage nicht immer gerecht wird. Torsten Bauer zeichnet in zahlreichen Nebenrollen präzise Miniaturen. Als Großvater Muhamed macht er auf berührende Weise deutlich, wie schwer sich ausgeprägte Heimatliebe und der Zwang zu Integration oder gar Assimilation vereinbaren lassen.
Die Hauptfigur wird von drei verschiedenen Schauspielern verkörpert. Ronja Oppelt, Daniel Rothaug und Henry Morales wollen verschiedene Facetten und verschiedene Lebensphasen des Protagonisten beleuchten, zeichnen dessen Konturen jedoch recht ähnlich. Vielleicht soll mit der Mehrfachbesetzung (die Wolle und Polke bei der Großmutter überzeugender gelingt) auch die anfängliche Zerrissenheit des jungen Stanisic und die Zerrissenheit des jugoslawischen Volkes versinnbildlicht werden, die für den Erzähler erst durch den Bürgerkrieg zu Tage trat. Zwingend wirkt die Idee nicht.
In der Schlussszene tritt, wunderbar ironisch in dunklem Anzug mit blauer Schärpe verkörpert von Torsten Bauer, der König der jugoslawischen Literatur auf, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1961 Ivo Andric. Sein Hauptwerk spielt dort, wo auch Staniši?s Familie bis zu ihrer Flucht gelebt hat. „Die Brücke über die Drina“ in Višegrad war eine der wichtigsten Verbindungen zwischen dem osmanischen Reich und dem europäischen Sarajewo, und ihr Erbauer Mechmet Pascha Sokoli machte sie zur Brücke zwischen den Kulturen: der Christ, der im Kindesalter zum Islam entführt wurde, wurde zum Symbol des Zusammenlebens von Moslems und Christen, das zwar konfliktbeladen blieb, doch lange Zeit nicht kriegerisch war. Hawemanns Inszenierung prangert am Ende voller Wut den Nationalismus und die Geschichtsvergessenheit derjenigen Jugoslawen an, die dieses Vermächtnis nicht achten. Ihr Nationalismus ist eine Mischung aus Herkunftsvergessenheit und arroganter Herkunftsgewissheit.