Ein Kuss, ein Königreich für einen Kuss!
Sieben Monate ist es her, seit der Lockdown über Theater und Theater-Enthusiasten hereinbrach. Vielleicht steht der zweite kurz bevor: Kontaktverbote sind gerade wieder en vogue; strenge Abstandsregeln gelten seit März ohne Unterbrechung. Die Theater spielen wieder, aber kaum eine Neuinszenierung kommt ohne - oftmals sogar szenenlange - Anspielungen auf Corona aus. Den Vielgucker nervt das, und zwar gewaltig. Aber: Soll man sich deshalb sinnlos besaufen? Bitter genug war die Erkenntnis, dass emotionale Liebes- und Prügel-Dramen wohl für die nächsten zwei Jahre vom Spielplan verschwinden würden.
Doch da haben wir die Rechnung ohne das Schauspiel Wuppertal gemacht. Trotzig haben die Wuppertaler an ihrem ursprünglichen Plan festgehalten, die berühmteste Liebesgeschichte der Theaterhistorie zu spielen. Herausgekommen ist ein Versuch über die Liebe in Zeiten der Pandemie. Kaum einmal während der 105 Minuten langen Aufführung kann man das Thema Corona vergessen. Und das nervt nicht gewaltig, sondern es ist hinreißend!
Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia erklingt. Hinter einer durchsichtigen Wand schimmern die Silhouetten einer englischen Gesellschaft. Sie schwatzen aufgeregt, rennen wild durcheinander, lugen auch mal durch den Vorhang und bilden poetisch-witzige tableaux vivants. Irgendetwas hat sie aufgescheucht aus ihrer Ruhe – Corona vielleicht? Soll man sich sinnlos besaufen, fragt die Gesellschaft, fragt Aristophanes, der da plötzlich mit Sokrates auftaucht, und der große Philosoph antwortet: „Wir sollten lieber über ein spannendes Thema sprechen.“ - Und was ist ein spannendes Thema? - „Die Liebe!“ Wie in Platons „Symposion“ zitiert Aristophanes den Mythos vom durch Zeus in zwei Teile geteilten Kugelmenschen, von Händen, Füßen und Gesichtern, die sich danach sehnen, zusammenzuwachsen, so wie es einst im Ursprung war. Damals, vor dem Eingreifen des Zeus. Damals, vor Corona, als eine Vereinigung der Leiber noch möglich war.
Zwischen den Montagues und den Capulets herrscht allerdings nicht Liebe, sondern Bürgerkrieg. Als habe die Party bei den Capulets schon begonnen, ist Tschaikowskis Musik fröhlicher Unterhaltungsmusik gewichen. Sie untermalt Bilder von schwer bewaffneten Polizisten und gewalttätigen Demonstranten, die aufeinander einschlagen. Hass-Zitate aus Shakespeares Liebes-Drama untertiteln die Videos. Doch die gehobene Gesellschaft feiert. Stefan Walz gibt den alten Capulet und, im engen grünen Rock, auch dessen Frau. „Wenn ihr je wieder den Frieden auf unseren Straßen stört, büßt ihr mit dem Leben“, heißt es. Capulet bleibt auch gelassen, als ihm die Anwesenheit eines Montague (eben Romeos) auf seinem Fest gemeldet wird. Vielleicht – so sinnesstarr wirkt Capulet nämlich eigentlich nicht – will er ja wirklich Frieden. Auf jeden Fall macht er sich nicht die Hände schmutzig – Prügel sind die Sache des Pöbels, nicht der Recihen und der Schönen.
Clowns heitern die Atmosphäre auf, Film-Projektionen mit Chaplin-Figuren. Romeo und Julia tragen Masken – keine Corona-Masken, denn damit könnte man ja nicht rauchen, sondern weiße Gesichtsmasken, die Mund und Nase frei lassen. Capulets Maskenball gibt der Inszenierung Gelegenheit zu einem phantasievollen Spiel mit den unterschiedlichsten Formen von Masken – man mag darin eine Corona-Anspielung sehen, kann es aber auch bleiben lassen. Beim Tanz lernt das Paar aus den verfeindeten Familien einander lieben – auf Abstand. Ihr Gespräch, ihr Treffen wird nur von Taschenlampen beleuchtet – sich einander zu nähern, muss im Geheimen geschehen. Das war schon bei Shakespeare so – und ist es heute erst recht, wenn man aus unterschiedlichen Infektionsgemeinschaften stammt. Die beiden sind wohl erzogen, halten sich an Regeln: Julia nähert sich höchst zögerlich, und Romeo ist auf maximalen Abstand bedacht. Pater Lorenzo ist eine Frau; Luise Kinner gibt sie teflonhaft als Ursula-von-der Leyen-Figur. Sachlich, zügig und recht plötzlich verheiratet sie die beiden. Und fordert sie auf zu tun, was ein Brautpaar am Ende der Hochzeitszeremonie so tut: einander zu küssen. Verwirrung bei den Liebenden, Schrecken auch: „Küsst Euch“, wiederholt Frau von der Leyen. Und Romeo und Julia, aufgewachsen in Coronaland, laufen entsetzt in verschiedene Richtungen davon. Luise Kinner aber steigt zu einer komödiantischen Glanzleistung aus ihrer Rolle aus und performt die Corona-Verordnung des Schauspiels Wuppertal, schrill, witzig, mit geschraubten Formulierungen und verdrehter Körperhaltung, aber immer in politisch korrekt gegenderter Sprache.
Es ist grandios, wie das Wuppertaler Theater auf die Pandemie zu reagieren versteht. Nicolas Charaux inszeniert witzig und poetisch, humorvoll und melancholisch, mit phantasievollen Bildern und Anspielungen aus Literatur und Film sowie mit trotzigen Abstands-Choreographien. Es gibt ein wunderbar ironisch choreografiertes Desinfektionsballett, und auch die für Mercutio und Tybalt tödlich endende Schlägerei wird nur choreographisch angedeutet. Die sonst so temperamentvolle (aber oft auch viel zu lange) Szene wird wie in Erstarrung gespielt, als Alptraum. Alle halten Abstand, auf Stühlen sitzend, auch Martin Petschans Tybalt, der sich selbst die vielen Messerstiche zufügt, die ihn töten.
Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht: Es folgt Romeos Verbannung („Verbannung statt Tod: Das ist Glück“, versucht Pater Lorenzo Julia zu überzeugen, und die tolle Choreographie dazu lässt es offen, ob es sich um eine Feier des Glücks im Unglück oder um trotzigen Widerstand handelt). Paris, von Ausstatter Dominik Freynschlag in wunderbar lächerliche Kostüme gesteckt („Ich bin eine Blume: Gieß mich!“), wird Julia von einer auf der Videowand in Großaufnahme die Zähne fletschenden Lady Capulet als Bräutigam angedroht, und Julia wird von Pater Lorenzo das Gift erhalten, das sie in einen Tiefschlaf versetzen soll, damit alle sie für tot halten, bis Romeo sie entführen kann. Und tatsächlich: alle treten in den Plastikoveralls der Corona-Helfer an Julias Kranken- oder Totenbett. Nur Romeo kommt schutzlos.
Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht? Nichts wissen wir. Der Pater hat die Dosis des Gifts richtig kalkuliert. Julia wacht rechtzeitig auf. Sie blickt ihrem Romeo in die Augen, die Hände nähern sich, die Arme umschlingen den anderen. Wagner-Musik erklingt. Das Verbotene geschieht: Julia Meier und Konstantin Rickert küssen einander inniglich. Verkrampfungen von monatelangem social distancing lösen sich: Tränen weinen wir, Tränen der Rührung und des Glücks. Es ist das Glück, dieser beschissenen Seuche gezeigt zu haben, was eine Harke ist. Romeo und Julia aber werden von den übrigen Schauspielern mit dichtem Schaum besprüht. Vielleicht sind es Desinfektionsmittel. Das Paar erstarrt zu einer weißen Skulptur. Ist das ein Happyend? Ein Open End? Der Liebestod? Ich weiß es nicht. Auf der Videowand tanzen die Viren, aber sie haben ihre Widerhaken verloren. Glaubt mir, ich bin ganz sicher: Sie verwandeln sich gerade in Blumen oder Sonnen. Alles wird gut!