Übrigens …

Wut im Köln, Schauspiel

„Der Spott muss weg. Die Spötter auch.“

Bevor es losgeht, ruft schon der Muezzin. Da ist der Vorhang noch geschlossen. Kaum geht der Lappen zur Seite, ist er da, der Ausrufer, guckt heraus aus dem Fenster eines riesigen Hühnerbeins, oben ohne, mit weißem Gesicht und einer weißen Kopfbedeckung, die auf den ersten Blick wie ein Indianer-Federschmuck wirkt. Zwischen beiden Hühnerbeinen liegt ein halbes Ei. Benny Claessens, der Muezzin, der von oben die Welt beschallt, wird an diesem zweistündigen assoziativen Jelinek-Abend noch reichlich Gelegenheit zum Gackern haben.

Vermutlich sollen die Hühnerbeine nicht an Witwe Boltes Federvieh, sondern eher an einen deutschen Adler denken lassen. Das Ei dagegen, flankiert von den beiden Hühner-Minaretten, weist starke Ähnlichkeiten mit der Kuppel der Kölner Moschee auf. Nach einem 180°-Schwenk der Drehbühne blickt der Zuschauer in den Innenraum des Gotteshauses, und siehe da: Man sitzt vor einer TV-tauglichen Showbühne, einer Disko düsterer Islamisten und fröhlicher Regietheater-Berserker. Ersan Mondtag, der am Schauspiel Köln Elfriede Jelineks schon etwas angejahrtes Stück Wut inszeniert, ist der Meister grandioser Bühnenbilder, die allerdings die inszenierten Texte so manches Mal erschlagen. Bilder und der Umgang damit spielen auch in Jelineks Text eine große Rolle. Für die Interpretation von Mondtags Inszenierung sind sie sogar essentiell, doch zum Textezertrümmern werden sie diesmal kaum benötigt: Das erledigt Benny Claessens nämlich selbst.

Claessens ist Kult bei Zuschauern und Theaterkritikern und nicht nur Jelinek-erfahren, sondern sogar Jelinek-prämiert: Für seine Rolle als trumpeliger König in Falk Richters Inszenierung Am Königsweg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (siehe hier) erhielt er den Alfred-Kerr-Preis beim Berliner Theatertreffen und die Auszeichnung als „Schauspieler des Jahres 2018“ bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute. Schon da bestand seine Performance aus einer Kompilation aller erdenklichen Varianten des Trash. „It’s time for Africa“ trällert er in Köln, und, ach ja, die Kopfbedeckung könnte auch der Schmuck eines afrikanischen Häuptlings sein, was zum Whitefacing von Claessens‘ Gesicht passen würde, denn Blackfacing ist ja verboten. Aber eigentlich geht es in Jelineks Text vorrangig um die Anschläge auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris vom Januar 2015 - um die „Wut“ der Autorin ebenso wie die Wut der Islamisten. Africa? Ach ja, im Norden des Kontinents liegen die Ausbildungslager der Terroristen.

Da geht es offenbar durchaus sexy zu. Auf und neben der Showbühne (also im Inneren und an den Seiten der Moschee) gibt es live, als Videoprojektion und als Fotografien ästhetisch gelungene Männerphantasien: Fotos von rassigen Bikini-Girls mit coronakompatibler Gesichtsmaske und Kalaschnikows, Videos von hübschen Frauen mit Sprengstoffgürteln, Schauspieler als Freiheitskämpfer mit langen Muslim-Bärten. Leichen pflastern die Redaktion des Satire-Magazins, tote Juden liegen, malerisch drapiert, zu Füßen der Hühnerbein-Minarette. Später gibt es Zitate aus Horror- oder Gothic-Filmen, in einem gemütlichen Outdoor-Bistro diskutieren die Schauspieler im Schatten des brennenden Eiffelturms über Terror, Tod und Teufel. Wie so oft sind Ersan Mondtags Bilder grandios, diesmal sind sie auch provokant, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht, auch im Hinblick auf political, clerical and gender correctness. Wir erinnern uns: Anlass für die islamistischen Anschläge war die Abbildung von Mohammed-Karikaturen. Abbilder des Propheten sind für den strenggläubigen Moslem ebenfalls ein Verstoß gegen die political correctness. Weniger feinfühlig dagegen ist der Islamist, wenn es um Filmaufnahmen von Exekutionen geht, um Bilder von weißen Ungläubigen, denen bei lebendigem Leib der Kopf abgeschnitten wird. Der einzige, der dann voller Selbstmitleid schluchzt, ist Benny Claessens: „Der Kämpfer kommt nicht ins Internet…“

Jelinek: das sind Kalauer, Wut, Provokation, bildstarke Sprache und sensationelle Fallhöhen zwischen intellektuellem Anspruch und blöden Witzchen. Mondtag und Claessens treiben den Kalauer in den Trash und die Provokation irgendwo in die Nähe von Clockwork Orange (mit dem Wiedergänger eines Alex, der noch viel schriller und abgedrehter ist als bei Burgess selig). Über die Fallhöhen lässt sich streiten, denn von Jelineks oftmals so überraschend musikalischer Sprachstruktur bleibt nicht allzu viel übrig, und der Trash dominiert nach dem Geschmack des Rezensenten doch allzu sehr. Grundsätzlich aber gilt: Was bei Jelinek angelegt ist, wird bei Mondtag überzeichnet, einfach noch um zwei oder drei Umdrehungen gesteigert. Das gilt auch für das Assoziationen-Wirrwarr: Kaleidoskopartig blättert Jelineks Text verschiedene Szenarien von Wut und Wutbürgern auf; er wandert vom Politischen ins Private, von Terrorismus zu Fremdenhass, vom Religiösen ins Autobiographische. Aber alles ist scheinbar wild durcheinandergeraten und auf das Schrägste miteinander verschränkt. So etwas ist ein gefundenes Fressen für den irren Selbstdarsteller Claessens, der vor keiner noch so albernen oder exaltierten Show-Einlage zurückschreckt. Da chillen die Männer im türkischen Hamam, während ein schwarzer Todesengel ihnen roten Sekt serviert; dann reitet Claessens vor der Kulisse eines brennenden Schlachtfelds auf einem goldenen Penis und feuert ironische Seitenhiebe auf Elfriede Jelinek und weiße heterosexuelle Intendanten ab. Manche dieser Bilder könnten bezwingenden Charme haben, wenn Claessens seine Clownerien nicht ständig mit einem bölkenden „Das ist lustig!“ begleiten würde - das tötet die Lust leider ab. Wenn sie so eitel und albern in ihrem Spott agieren, ist man geneigt, den von den Terroristen auf Charlie Hebdo gemünzten Spruch zu unterschreiben: „Der Spott muss weg. Die Spötter auch!“ Die Aufführung artet zunehmend aus in Lärm und Geschrei. (Vielleicht - man sollte in jeder Rezension auch die Dummheit des Rezensenten mitdenken - liegt der aufkommende Unmut allerdings auch daran, dass ich irgendwann den zahlreichen Assoziationen, mit denen die Aufführung spielt, nicht mehr folgen konnte.)

Wie stets in den jüngeren Jelinek-Texten zieht die Autorin Parallelen zu antiken Mythen, hier zur Sage um den griechischen Helden Herakles, den Hera so blind vor Zorn machte, dass dieser im Rausch seine eigenen Kinder meuchelte. Da galoppieren auch schon mal die apokalyptischen Rosse durch den Text (und in geringerem Umfang durch Mondtags Inszenierung), was ja zum islamistischen Terror ebenso passt wie zur heutigen Seuche. Homer geistert über die Bühne wie auch das ikonische Bild des an die Küste geschwemmten toten Jungen Alan Kurdi - ein weiteres totes Kind, siehe Herakles.

Fürs Autobiographische ist in Köln die betagte Schauspielerin Margot Gödrös zuständig. Ganz ehrlich: Wenn die Kollegen auch wieder ihre Elogen über den hochenergetischen Benny Claessens schreiben, so ist es doch die Gödrös, die uns immer wieder aus den Tiefen des Trash oder der Redundanzen rettet mit ihrer wunderbaren, mild ironischen, manchmal aber auch bewegenden Darstellung der Elfie Jelinek. Gödrös und Jelinek haben die ironische Distanz zu sich selbst, die den aufdringlichen Clownerien von Claessens so oft fehlt.