Übrigens …

Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Herbert Nolan im Bochum, Schauspielhaus

Es gibt keine einfachen Wahrheiten

It’s „a quiet place“. Anders ausgedrückt: Mehr Provinz geht nicht. Auf dem gemalten Prospekt am Ende des Bühnenraums führt ein unbefestigter Weg schnurstracks geradeaus durch Kornfelder. Die Schauspieler streuen Sand und verlängern den Weg quer durch die ehemalige Waschkaue der Zeche 1 ins Dorf bis zu den Zuschauerrängen, die coronabedingt mit nur sechs Besuchern besetzt sind. „Flyover country“, nennen die Business People von der amerikanischen West- und Ostküste heute die agrarwirtschaftlich geprägten Landstriche in der ereignislosen Mitte des Landes. Der despektierliche Begriff trägt dazu bei, dass die dortigen Bewohner sich abgehängt fühlen und selbst nach vier Jahren eines desaströsen Regierungsstils einem inkompetenten, bösartigen Lügner 80 Prozent ihrer Wählerstimmen geben. In dem auf einem realen Fall aus den 1960er Jahren basierenden Stück des italienischen Erfolgsautors Stefano Massini schreiben wir allerdings erst das Jahr 1956. Selten verschlug es damals einen Fremden in die Dörfer solcher Landstriche. Auch in Deutschland haben wir erfahren: Wo es wenige Fremde gibt, ist die Fremdenangst am größten.

Im Dorf ist man froh über die Ruhe und die Abgeschiedenheit des lokalen Lebens. Wer so etwas mag, findet in Leister County eine Idylle. Auf einer Farm außerhalb des Dorfes lebt der 80jährige Jonah Robichaux mit seiner Familie, die zur anabaptistischen Gemeinde gehört und wenig Kontakt zur übrigen Bevölkerung pflegt. Er sei, so wird es später in einer Zeugenaussage heißen, ein kranker, friedliebender alter Mann, der den Dienst an der Waffe verweigert und jede Gewalt verabscheut habe. An jenem heißen 12. Juli 1956 nähert sich ein Unbekannter dem Dorf und bittet Robichaux‘ Enkelin Else um ein Glas Wasser. Else erschrickt. Jonah holt die Flinte und schießt. Der Fremde ist tot.

Jonah stirbt kurze Zeit später und kann nicht mehr vor Gericht gestellt werden. In dem Prozess, der in Massinis Stück nachgestellt wird, geht es also nicht um die Bluttat selbst. Falls Sie das enttäuscht, geht es Ihnen wie vielen der Geschworenen, die auf einen Sensationsprozess spekuliert hatten. Angeklagt ist der Zeitungsverleger Herbert Nolan, der sich kurz zuvor an einer in der Nähe aufgebauten lokalen Waffenfabrik beteiligt hat. Nolans Blatt bläst den Fall zur versuchten Vergewaltigung und die tödlichen Schüsse zur patriotischen Tat auf. Will der Verleger mit der reißerischen Berichterstattung den Absatz seiner Gewehre ankurbeln? Oder ist es das „ganz normale“ Geschäft eines Journalisten, in einer Gegend, in der jahrelang nichts Aufregendes geschieht, den Fall zur Sensation hochzujazzen und zur politischen Propaganda zu nutzen? Wird die Bevölkerung durch die Berichterstattung bewusst manipuliert? Wenn ja, warum? Wollen wir Zeitungsleser uns gar manipulieren lassen? Die Inszenierung stellt eine bedenkenswerte Grundsatzfrage: „Sind wir es, die eine Zeitung benutzen, oder ist es die Zeitung, die uns benutzt?“.

Welches Verbrechen Herbert Nolan eigentlich vorgeworfen wird, erfahren wir nicht. Irgendwie handelt es sich um ein Hybrid aus Wirtschaftsprozess und moralischer Anklage. Aber die Inszenierung spricht zahlreiche Probleme an, die auch 65 Jahre nach dem Mord von höchster Aktualität sind. Vier Tage vor der US-amerikanischen Präsidentenwahl ist die (aufgrund des ersten Shutdowns aus März verschobene) Uraufführung perfekt platziert. Es geht um Fake News und Verschwörungstheorien, um Vorurteile und subtile Meinungsmache, um vermeidbare Eskalationen, die durch exzessiven privaten Waffenbesitz ausgelöst werden, um die Angst vor dem Fremden, die in Fremdenfeindlichkeit mündet, um das Schüren von Angst als Mittel der Politik oder der Durchsetzung geschäftlicher Interessen. Es geht um die Schaffung nachträglicher Wahrheiten und um die Fragilität des (nicht nur amerikanischen) Rechtssystems, um die Beeinflussung von Zeugen und die Auswahlmechanismen bei der Benennung von Geschworenen, deren individuelle soziale Prägung das Urteil beeinflusst. Zu Beginn von Thomas Dannemanns Inszenierung werden die Geschworenen dieses Prozesses vorgestellt. Es handelt sich in der Mehrzahl um Menschen, die einer solchen Verantwortung kaum gewachsen sein dürften: Menschen mit begrenzter Bildung, begrenztem Interesse, begrenzter Selbstkontrolle oder altersbedingt begrenzter Konzentrationsfähigkeit. Um gutwillige Menschen voller Vorurteile.

Stato contra Nolan“ hat lange in den Schubladen der italienischen und internationalen Dramaturgen geschlummert, bevor Thomas Dannemann gemeinsam mit dem Schauspielhaus Bochum einen Coup landete und die Uraufführungsrechte für die Abschlussinszenierung des Studiengangs Schauspiel der Folkwang Hochschule an Land zog. Massini ist bekannt für dokumentarische oder halbdokumentarische Dramentexte, die zwar gut recherchiert sind, oft aber auch ein wenig langatmig geraten. Auch diesem Stück werfen einige Rezensenten dramaturgische Schwächen vor. Der Schreiber dieser Zeilen gewann dagegen den Eindruck, dass Dannemann und die Bochumer Schauspielschüler(innen) einen Schatz gehoben haben. Die Vielfalt der angesprochenen Themengebiete wurde bereits erwähnt. Die größte Qualität von Stück und Inszenierung aber ist, dass sie einfache Lösungen und selbstgerechtes Fingerpointing nicht zulassen. Einfache Wahrheiten gibt es nicht - weder zu den Hintergründen der Bluttat noch zur Rolle der Presse, weder zum Berufsethos des Journalisten noch zur gesellschaftlichen Problematik des Waffenbesitzes. Was also ist Realität und was Täuschung? Wo verläuft die Grenze zwischen dem Schüren von Angst und dem sinnvollen Mahnen zur Vorsicht? Wo schlägt das friedliebende Bekenntnis bibeltreuer Christen in militante Ideologie um? Welche Bedürfnisse hat die mediale Berichterstattung zu bedienen? Ohne dass es aufgesetzt wirkt, stellt die Inszenierung sogar existenzielle Sinnfragen; zutreffend stellt die Staatsanwältin gegen Ende fest, es gehe längst nicht mehr um einen Fall aus der Sphäre der Wirtschaft, sondern um politische Fragestellungen. „Was verhandeln wir wirklich in diesem Gerichtssaal?“, heißt es einmal: „Unser Recht, nicht betrogen zu werden.“ Aber alles ist interpretierbar. Die Antworten auf politische ebenso wie auf viele individuelle Fragen hängen vom jeweiligen Blickwinkel ab.

Massinis Stück bildet im Wesentlichen den Verlauf des Prozesses gegen den Zeitungsmacher ab. Mag sein, dass das - vom Blatt gespielt - ein wenig trocken rüberkäme. Dem aber wirkt Thomas Dannemann entgegen, indem er den Tathergang, das Dorfleben und viele Zeugenberichte mit einfachen szenischen Mitteln in Rückblenden darstellen lässt. Die Phantasie des Zuschauers geht auf Wanderschaft, während die Schauspielschülerinnen und -schüler sich in unterschiedlichsten Rollen und Situationen mit überzeugender Eindringlichkeit präsentieren. Rosalia Warnke als schüchterne Else Robichaux macht den inneren Widerstreit zwischen eigener Erinnerung und medialer oder familiärer Beeinflussung auf glänzende Art deutlich. Carlotta Hein zeigt als Lehrerin klare Kante und intellektuelle Überlegenheit. Clara Schwinning überzeugt als selbstbewusste, engagierte, argumentationsstarke Journalistin, die, unter Druck gesetzt durch die Fragen des Gerichts, nachdenklich wird und Spuren der Verunsicherung zeigt. In trachtenähnliche Kostüme gekleidet, spielen die Schauspieler das harmonische Alltagsleben im Dorf; dann wieder herrschen Chaos und Gewalt, und es kommt zu Schießereien auf der Bühne als wären wir im Wilden Westen statt im ruhigen Leister County. Die Schauspieler springen in verschiedenste Rollen - Pujan Sadri ist der Besitzer des Waffengeschäfts, in dem sich alle Einwohner mit Knarren eindecken, aber auch das Opfer des tödlichen Schusses, und Carlotta Hein vermag auch ihrer Rolle als Rechtsanwältin differenzierte Züge zu verleihen, bevor sie ein glockenhelles a-capella-Liedchen auf die Segnungen des Waffenbesitzes anstimmt: „Bang, bang, he shot me down…“

Ohnehin lockern immer wieder musikalische Einlagen die Inszenierung auf. Bald hat jedes Mitglied der Dorfgemeinschaft eine Flinte, die gemeinschaftlich stolz in die Höhe gereckt wird, während das Ensemble John Lennons „Give peace a chance“ anstimmt. It’s a quiet place. Mit einer Leiche im Keller.