Auf der Suche nach der verlorenen Hand
Die Adresse? 1280 Sycamore, Spokane. Fahren Sie mal hin und gucken Sie nach: Dort steht ein kaputter Kühlschrank in der Garage. Vielleicht finden Sie darin eine linke Hand. Carmichael fährt schon mal los. Die merkwürdigen Typen, die ihm, dem großen weißen Mann, fälschlicherweise die Hand eines Schwarzen geliefert haben, hat er derweil in seinem Hotelzimmer ans Bett gefesselt. Auf Abstand daneben steht ein Benzinkanister mit einer brennenden Kerze. Wenn die abgebrannt ist, fliegt das Zimmer in die Luft. Es sei denn, Carmichael findet im Gefrierschrank seine eigene Hand, diejenige, die er vor 27 Jahren verloren hat. Dann hat er endlich Ruh‘ - oder er packt die Hand in den Koffer mit all den anderen Erwachsenen- und Kinderhänden.
Mervyn ist Rezeptionist. Untenrum hat er meist nix an außer Boxershorts, obenrum ist er stets korrekt gekleidet. Mervyn ist ein ziemlich schräger Vogel, was vermutlich der Grund dafür ist, dass sich nie jemand in ihn verliebt. Obwohl: Es gab da mal eine. Eine innige Zuneigung verband die beiden - bis zu ihrem plötzlichen Tod. Sie war ein Gibbon-Weibchen. Jetzt steht Mervyn, die nackten Beine in Boxershorts und eine Pistole in der Hand, im Zimmer und hält einen Monolog über seine Lebensträume. Von Massakern handeln sie, von Schusswechseln, Messerstechereien und Bombenlegern. Einmal wenigstens soll etwas Aufregendes in seinem Hotel passieren. Dass zwei Lesben niedergestochen werden zum Beispiel. Er würde sie retten - schließlich muss man sich um die Leute kümmern, auch wenn sie anders sind als man selbst. Vielleicht würde er dann sogar eine Medaille von irgendeinem Lesbenverband kriegen. Ansonsten…: Zootiere zu befreien, wäre auch schön. Martin McDonagh kann 2010, als sein Stück Eine Enthandung in New York uraufgeführt wurde, doch noch gar nichts vom abgebrannten Krefelder Affenhaus gewusst haben.
Das Telefon klingelt. Mutter ist vom Baum gefallen. Jetzt liegt sie da, verletzt, im Sterben vielleicht, und ruft ihren Sohn an. Der ist aber gerade… jaja, in der Garage. So geht denn Toby ans Telefon. Die Kraft, ihn anhand seiner Sprache als Schwarzen zu identifizieren und ihn mit rassistischen Sprüchen einzudecken, hat Mutter noch. Aber warum klettert eigentlich eine 70jährige auf einen Baum? Und was hat das mit der Geschichte der von einem Eisenbahnzug mit chirurgischer Präzision abgetrennten Hand von Carmichael zu tun?
Richtig: Gar nichts. Es ist nur eine weitere skurrile Schleife in einer hinreißend absurden Komödie, wie sie scheinbar nur Iren schreiben können. Oliver Paolo Thomas hat sie am Rottstr.5 Theater in Bochum mit perfektem Gespür für die Pointen inszeniert und in ein Setting der 1950er Jahre versetzt. Der Text trieft nur so von schwarzem Humor, und die Dialoge setzen „in Sachen politischer Unkorrektheit neue Maßstäbe“, wie es in der Stückbeschreibung von Martin McDonaghs deutschem Verlag zutreffend heißt. Wenn die Bomben schon nicht im Hotel hochgehen, so sind sie zumindest ganz allerliebst im Text versteckt: rassistische Beleidigungen, Ressentiments gegen Lesben und Schwule, verbotene N-Wörter, der eine oder andere sexistische Seitenhieb. Natürlich ist das Ganze auch eine Entlarvung unserer Alltagsgesellschaft, und wer darüber nicht lachen kann, ist bedauernswert verbohrt. Deryl Kenfack jedenfalls, selbst Person of Colour, kann es, in einer wunderbaren Mischung aus Aufbegehren und Humor. Er gibt den männlichen Teil des Drogenhändler-Paars, das den Gelegenheits-Job als Hände-Händler nicht ausschlagen mochte und dessen Misserfolge auch auf die beispiellose Intelligenz zurückzuführen sein dürfte, mit der es zu Werke geht. Die Hand für Carmichael haben Toby und Marilyn in einem Naturkunde-Museum geklaut. Echt Künstlerpech, dass in einem Naturkunde-Museum meist „eingeborene Hände“ zu finden sind, die von farbigen Ureinwohnern stammen. Sophia Schiller gibt Tobys Rififi-Partnerin Marilyn, naiv, ein wenig nuttig gekleidet, aber mit Mutterwitz und ab und an dem richtigen Gespür für die Deeskalation der Lage. Sowieso: Die beiden kleinkriminellen Intelligenzbestien sind die einzigen halbwegs normalen Menschen aus dem vierblättrigen Kleeblatt, das McDonaghs Stück bevölkert.
Alexander Gier als Carmichael zieht alle Blicke auf sich. Groß gewachsen, langhaarig, mit Vollbart steht er da im langen Ledermantel, ein bisschen mysteriös, eine Art Womanizer mit undurchsichtigem Blick und Haifischlächeln. Aufbrausend kann er werden, cholerisch gar - und dann wieder schaut er plötzlich ganz verloren drein, so wie man wahrscheinlich guckt, wenn man 27 Jahre lang nicht viel mehr auf dem ToDo-Zettel hat als nach seiner linken Hand zu suchen. Gier hat Ausstrahlung, keine Frage. Benjamin Werner hat die nicht - erstmal. Ein etwas zu hohes Stimmchen, ein etwas zu naiver Blick, ein etwas zu aufdringliches Wesen - so steht er da vor seinem fremden Gaste und konfrontiert ihn so freundlich wie umständlich mit der Tatsache, dass er sehr wohl gecheckt hat, dass sich da gerade ein Pärchen nach einem merkwürdigen Pistolenschuss in Luft aufgelöst hat. Werners Mervyn ist die Show. Ständig agiert er jenseits der Grenze zum Wahnsinn, man möchte das Handy aus der Hosentasche holen und ihn stantepede in die Psychiatrie einweisen lassen. Der bereits erwähnte Monolog über seine Träume, seine Zukunft und Vergangenheit ist völlig bescheuert - und steckt doch voller kleiner philosophischer Einsichten und Sehnsüchte. Wenn Marilyn scheinbar mit Mervyn anbändelt, um ihn zum Löschen der bedrohlich herabbrennenden Kerze zu überreden, schaffen Sophia Schiller und Benjamin Werner eine großartige komödiantische Miniatur. Strunzdoof wirkt dieser Rezeptionist - und doch begreift man irgendwann: Dieser Mann kann Zusammenhänge herstellen, vielleicht als einziger der vier. Er ist den anderen locker überlegen.
Da das Stück eine Komödie ist, überleben am Ende natürlich alle. Mervyn, der Durchgeknallteste, aber auch der Ehrlichste von allen, hat mit seiner verschraubten Gutmütigkeit dazu beigetragen. Carmichael aber hat seine Hand nicht wiedergefunden. Wenn Sie das nächste Mal nach Spokane kommen, suchen Sie sich doch einmal eine heruntergekommene Absteige, nicht zu billig, aber auf keinen Fall zu teuer. Vielleicht treffen Sie Carmichael dort auf der Suche nach seiner verlorenen Hand. Und schauen Sie mal an der Rezeption über den Tresen. Vielleicht hat der Rezeptionist ja untenrum nix an. Außer Boxershorts, versteht sich.