Übrigens …

Alice im Schauspielhaus Düsseldorf

Alice im Wunderland - zwischen Traum und Albtraum

Lewis Carrolls Erzählung Alice im Wunderland ist bis heute eines der meist zitierten Werke in der angelsächsischen literarischen Welt. Der Autor Lewis Carroll wurde als Charles Lutwidge Dodgson 1832 als Sohn eines Landpfarrers geboren. Lewis, der in Oxford Mathematik studierte, war sehr religiös und ließ sich schon als junger Mann zum Priester weihen. Dieses Amt übte er jedoch nicht aus, da er heftig stotterte. Ausgesprochen wohl fühlte er sich in der Gesellschaft sehr junger Mädchen, denen er lange Briefe schrieb oder Geschichten erzählte. Alice, die zehnjährige Tochter des Dekans von Christ Church, beeindruckte ihn besonders. Für sie schrieb er „Alices Abenteuer unter der Erde“, die Vorlage zu der überarbeiteten Version „Die Abenteuer von Alice im Wunderland“. Dieses Werk wurde schnell berühmt. Es gilt als erfolgreichstes britisches Kinderbuch und verbindet märchenhafte Elemente mit der Absurdität der Nonsense-Literatur, die Mitte des 19. Jahrhunderts in England salonfähig wurde. Die erfolgreiche Zeichentrickverfilmung durch die Disney-Studios 1951 zeigt eine im Buch nur selten vorhandene Harmonie zwischen Alice und den Figuren des Wunderlandes.

Alice folgt im Traum einem sprechenden weißen Kaninchen durch das Kaninchenloch und gerät in ein unterirdisches Wunderland, dessen Bewohner merkwürdige Wesen und Fabeltiere sind, die nach ihrer eigenen Unsinnslogik leben und keine Gelegenheit auslassen, Alice zu kritisieren. Das um Ausgleich bemühte Mädchen reagiert in diesen Konflikten oft resolut und intelligent. Das Buch zeigt ein Kind, das sich allein behaupten muss, weit weg von erzieherischen Normen. Einen größeren Kontrast zu den rigiden Ansichten der viktorianischen Gesellschaft kann es kaum geben.

Carroll hatte mehrere unkonventionelle Beziehungen zu erwachsenen Frauen. Was ihm jedoch angekreidet und den Vorwurf der Pädophilie einbrachte, war seine Korrespondenz mit jungen Mädchen, die er auch fotografierte. Carroll stirbt 1898 in Guilford. Neben „Alice in Wonderland“ (1865) verfasste er „What Alice found there“ (1872).

André Kaczmarczyk, ein zugleich ausgezeichneter Schauspieler wie auch Sänger, inszeniert Alice einfach atemberaubend und entführt die Zuschauer für zwei Stunden in ein schillerndes Märchenreich. Standing Ovations zu Recht für den Regisseur, das exzellente Ensemble - allen voran diestimmlich wie auch schauspielerisch herausragende Lou Strenger als Alice im hellblauen Kleid - und den Musiker Matts Johan Leenders, der die beschwingten, auch zum Teil fetzigen Songs für dieses Musiktheater schrieb und der den Abend mit seiner vierköpfigen Live-Band begleitet.

Vor der Vorstellung tritt Intendant Wilfried Schulz auf die Bühne. Er bedauert die Tatsache, dass die Theater ab dem 2. November erneut für vier Wochen geschlossen werden, obwohl sie doch mit „die sichersten Orte" seien, die man sich vorstellen kann. Schulz will sich das positive Bild des erwartungsvollen Publikums im Saal, das sich auf die Premiere freut, einprägen „bis wir uns wiedersehen“.

Kacmarczyk gelingt es, uns tief in Carrolls fantasievolle Zauberwelt eintauchen zu lassen. Dank hervorragender Schauspieler, aber auch Dank eines in seiner Schlichtheit bestechenden Bühnenbildes. Vorhänge deuten verschiedene Spielorte an, unterschiedliches Licht betont Szenenwechsel (grün für den Wald „wo nichts einen Namen hat“ und wo manch skurriler Bewohner wie Humpty-Dumpty, der auf einer Säule thront, lebt). Schatten treten übergroß ins Bild und verfälschen normale Größenverhältnisse, was wiederum den märchenhaften Charakter betont. Nur wenige Requisiten werden eingesetzt. Zum Beispiel ein Türrahmen, der zum Kaninchenloch wird, durch das Alice dem weißen Kaninchen (sehr gut: Kilian Ponert) ins Wunderland folgt. Alice, die sich immer wieder fragt „Wer bin ich?“, trifft hier auf allerlei ausgefallene und schräge Gestalten, die ihr Fragen stellen. „Woher kommst du?“ und „Wohin gehst du?“, fragt die autoritäre Herzkönigin (Claudia Hübbecker) in einem leuchtend roten Kleid, natürlich mit roten Haaren und roter Krone. Hübbecker spielt auch die Raupe, eine divenhaft elegante Dame der Gesellschaft, die gern Ratschläge gibt. Kacmarczyk gibt den Hutmacher herrlich affektiert, der zum „Fiveo’clockTea“ bittet. Bei dieser Teaparty sitzen alle auf unterschiedlich hohen Stühlen und parlieren auf Englisch. Auch die falsche Suppenschildkröte wird von Kacmarczyk gespielt: ein übergroßer Panzer, auf dem er mit langen blonden Haaren wie Lorelei hockt. Sebastian Tessenow tritt wie alle Mitwirkenden in mehreren Rollen auf. Schön, wenn er als Hummer mit großen Scheren im Hintergrund durchs Meer wandelt: „Es ist alles nur in deiner Fantasie.“ Alle Kostüme sind überaus kreativ und außergewöhnlich gestaltet. Als am Ende eine Gerichtsverhandlung zur Farce zu werden scheint, setzt sich Alice mutig für den Herzbuben (auch Sebastian Tessenow) ein. Und stellt fest: „Leben ist nicht nur ein Traum.“

Ein unglaublich betörender Abend, der das Publikum von der ersten Minute an verzaubert. Einen besseren Kontrast zur momentanen Corona-Wirklichkeit kann man sich nicht vorstellen. Ein Lob auf Fantasie, Kreativität und Schauspiel!