Übrigens …

Faust im Dortmund, Schauspielhaus

Die Frau und die Schöpfung

Kaum dass die beiden künftigen Buddies einander begegnen und Mephisto sich Faust in einem ersten Dialog vorstellt, breitet der Teufel seine nihilistische Philosophie vor dem Gelehrten aus: „… alles, was entsteht, / ist wert, dass es zugrunde geht; / drum besser wär’s, dass nichts entstünde.“ Das Schauspiel Dortmund stellt seiner Inszenierung „nach“ Goethes Faust eine düsterere Schöpfungsgeschichte voran, die diese Verse zu beglaubigen scheint. Vladimir Sorokin hat sie formuliert, und sie beginnt lange, bevor Gott sprach, es werde Licht. Genau genommen: Das Licht war schon da, aber Gott existierte noch nicht. Aus dem vorhandenen Licht haben wir Universen geschaffen, Galaxien, Sterne, Planeten. Durch einen Fehler des Lichts entstand die Erde. Mit Gott. Und aus uns, den Lichtstrahlen, die Gott geschaffen hatten, wurde der Mensch, der Gott untertan war. Gott sah, dass der Mensch allein war – und schuf das Ebenbild des Menschen aus einer Rippe. „Und die Menschen schrien auf vor Schmerzen, und das Blut floss in Strömen und formte sich zu Flüssen und Seen.“

Der grausame, pessimistische Text ist noch lange nicht zu Ende. Aus der Rippe schuf Gott die Frau, wir wissen es, und als man einander erkannte, erkannte man auch das Gute und das Böse. Auch Mephisto ist in Dortmund eine Frau, und sie ist es, die den Sorokin-Monolog spricht. Antje Prust spielt im hautengen, durchsichtigen schwarzen Hosenanzug. Über seine Verführungskraft lässt sich streiten – viel eher strahlt die Frau, die diesen sexy Dress trägt, Dominanz und Überlegenheit gegenüber dem anderen, oft als sexuell übergriffig geschilderten Geschlecht aus. Jedenfalls ist Mephistoline selbstbewusst und emanzipiert. Regisseurin Mizgin Bilmen (die eine Woche vor der Premiere erkrankte, so dass die Intendantin Julia Wissert und die Dramaturgin Kirsten Möller gemeinsam mit dem Ensemble die Inszenierung in Bilmens Sinne zu Ende zu führen versuchten) blickt aus weiblicher Perspektive auf Goethes Weltendrama. In ihrer Erzählung rund um Teufel, Faust und Margarethe wird die Frau in den Vordergrund gestellt, und die ist, wie wir noch sehen werden, alles andere als ein blondbezopftes Gretchen-Klischee (der Diminutiv wird entsprechend konsequent vermieden).

Außerdem kommt die Inszenierung immer wieder auf die Frage der Schöpfung zurück, die man ja auch in der Hexenküche oder in der Walpurgisnacht betreiben kann und bei der vielleicht das eine oder andere schief gegangen ist. Auch Faust ist ein Schöpfer: Linus Ebner gibt ihn als Bildenden Künstler, der mit großer Geste und digitaler Unterstützung abstrakte Muster an die Bühnenwände seines Ateliers wirft. Insbesondere bei den Interaktionen mit Mephisto und seinen (äh…: ihren) spindeldürren Assistent(inn)en verwandeln sich die Drip and Action Paintings schon mal in wunderschöne, von Hellblau und Rosa dominierte Pastellmuster. Im Anschluss an den Prolog aus Sorokins „Eis“ folgt der aus Goethes Himmel: „Kennst du den Faust“, fragt Gott den Teufel. Und da steigt er schon im schwarzen Künstler-Outfit die schmale Treppe hinunter, die, wenn Faust nicht gerade seine digitalen Videoprojektionen an die Wand zaubert, den einzigen Schmuck seines weißen Ateliers darstellt. Faust hat sich in seinem Streben nach der Erkenntnis sogar „der Magie ergeben“ und nimmt Kontakt mit den Geistern auf, was vorübergehend zu gespenstischem Seufzen und Knarzen aus Richtung des Bühnenraums führt.

Dort erfreuen sich die Geister permanenter Anwesenheit. Sie sind erschienen, längst bevor Faust sie rief, und nun wird er sie nicht mehr los. Mervan Ürkmez und Lola Fuchs sind elegante Hexen- oder Spukgestalten, die sich mal lasziv und verführerisch rekeln, mal chorisch oder solo geheimnisvoll verschlüsselte Beschwörungsformeln und Zaubersprüche deklamieren. Nicht nur durch ihre ebenfalls hautengen schwarzen Kostüme bilden sie eine kongeniale Ergänzung zum Chef-Dämonen Mephisto. Ein paar Tage nach dem Besuch der Aufführung dominieren die drei Teufel die Erinnerung. Faust ist gegen diese starken Figuren ohne Chance: Den in der Rezeption unserer Eltern und Großeltern bewunderten, nach unbegrenztem Wissen suchenden Universalgelehrten gibt Linus Ebner als einen eher blassen, verzweifelt Suchenden, dessen Talent nicht so recht vom Boden abhebt. Häufig verteidigt Ebner eher im Rückraum, und Tobias Hoefts Visual Arts machen ein weiteres schöpferisches Wunder möglich: Im Nebel oder im Pastell-Licht schrumpft Faust in unserer Wahrnehmung ab und an zu einer zweidimensionalen Abbildung seiner selbst. Inmitten seiner Drip Paintings wirkt er dann wie eine gegenständliche, aber eben blasse Ergänzung seiner eigenen abstrakten Kunst. So wird es später auch einmal den Geistern ergehen.

Schnell ist der Pakt mit dem Teufel geschlossen; die Hexenküche nimmt in der massiv gekürzten, aber um Texte von Heiner Müller und feministischen Autorinnen wie Donna Haraway ergänzten Fassung noch einen erklecklichen Raum ein – und dann heißt es schon: Auftritt Margarethe. „Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / bald Helenen in jedem Weibe“, hatte Mephisto versprochen, und in der Tat: Ausgerechnet Marlena Keil (Spezialität schrill, laut und wuchtig) taucht als Margarethe auf. Sie ist so weich geschminkt wie noch nie am Dortmunder Schauspiel, doch hätte die Casting-Abteilung die Besetzungserwartungen des mit dem Ensemble vertrauten Publikums kaum stärker unterlaufen können. Und hastenichgesehn: Keil erweist sich als ein veritabler Besetzungs-Coup. Und zwar wieder, weil sie erst einmal alle Erwartungen unterläuft.

Denn irgendwie hatten wir geglaubt, begriffen zu haben, dass Bilmen und ihre Vollender einen feministischen Blick auf Goethes Frauenfigur werfen wollten. Keil aber steht da, ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt, als eher biederes pubertierendes Girlie, weit entfernt von souveräner Weltsicht – Oma und Opa hätten sie als Backfisch bezeichnet. Süß spielen Ebner und Keil die erste gegenseitige Zuneigung; das Fräulein ist verwirrt und überfordert von den Gefühlen erster Liebe. Erschrocken schlägt sie die Hände vors Gesicht, als sie Faust im Überschwang ihre Liebe erklärt hat, ruft „Scheiße“ und „Entschuldigung“; stotternd spricht sie später das „M… m… mmmeine Ruh‘ ist hin“ – eine tolle Performance! Doch gebt acht auf die Geister: Wie heimtückische Menetekel hangeln Ürkmez und Fuchs im Bühnenhintergrund auf der Treppe. Die Vereinigung von Faust und Grete erfolgt als choreografierte Umarmung als Schattenspiel im Nebel. Das geht doch nicht gut?

Natürlich nicht. Und doch. Mephisto zitiert Walter Benjamin: „Was soll das: in einer Welt, die in Totenstarre versinkt, von Fortschritt reden.“ – Da haben wir wieder den Pessimismus von Sorokin aus der Anfangs-Szene. Doch Mephisto bekennt mit Benjamin, manchmal wolle er „das Zerschlagene zusammenfügen.“ Margarethe wird gerettet. In die Traum- und Zaubersphäre geht sie ein – sie darf mit zur Walpurgisnacht. Faust dagegen nicht: Schließlich haben wir einen weiblichen Mephisto sowie einen weiblichen und einen zumindest sehr androgyn wirkenden Geist. Margarethe trifft Lilith, die (in der Bibel nur ein einziges Mal erwähnte, aber von der feministischen Theologie wiederentdeckte) erste Frau Adams, die Gott als ebenbürtige Partnerin schuf und die nicht akzeptieren mochte, dass sie dem Adam untertan sein sollte. Margarethe entdeckt den Geist des Widerstands. Macht kaputt, was euch kaputt macht, oder, wie es hier heißt: „Verbrenne die, die dich verbrennen wollen.“ Mephistos Schlusswort an die Frauen lautet: „Habt keine Angst … Ihr wisst, was zu tun ist.“