Übrigens …

Herakles im WandelWerk Köln

Glotzen im Lockdown

Lockdown light? Nein, für die Kunst ist es der zweite komplette Stillstand in diesem Jahr - ein gravierender Einschnitt, der nicht nur existenzbedrohend ist für die vielen freien Gruppen und Solo-Selbständigen, sondern auch die Gefahr birgt, dass eingeübte Rituale vom gemeinsamen Theaterbesuch vergessen werden, dass der zwangsläufige Entzug am Ende zu einem Nachlassen des Bedürfnisses nach Theater führt. Noch ist es nicht so weit. Der Schreiber dieser Zeiten war elektrisiert: Mitten im Lockdown gab es eine Einladung zu einer Presse-Preview. Zwar ordnet die Politik die Kunst den Freizeitaktivitäten zu, doch hört man hier und da von Überlegungen, partielle Öffnungen der Kulturtempel für Schülergruppen zuzulassen. Es soll Politiker geben, die glauben, dass das Theater auch eine Bildungsfunktion wahrnehmen könnte. Wer hätte das gedacht?

Hansgünther Heyme zum Beispiel. Der Altmeister des Theaters, von 1968 bis 1979 (also vor rund 50 Jahren!) Intendant des Schauspiels Köln und bereits damals als Antiken-Experte hervorgetreten, hat zwar wenig Verständnis für die stiefmütterliche Behandlung der Kultur in Corona-Zeiten, aber er verfügt über die Erfahrung und Kreativität, damit umzugehen. Die ohnehin im kreativen, spartenübergreifenden Umgang mit der Kunst geübte Truppe vom disdance project rund um die Tänzerin und Choreographin Paula Scherf und den Schauspieler, Regisseur und Videokünstler André Lehnert vermochte Heyme für ein Projekt zu gewinnen, wie es coronakompatibler kaum sein könnte - und das gleichzeitig optimal auf Heymes Erfahrungsschatz zurückgreift. Sie erweckt ein selten gespieltes Antiken-Stück zum Leben und inszeniert Herakles von Euripides: mit vier Schauspielern, einer Menge Technik und in homöopathischen Dosen hinzugegebener Musik, aber ohne Live-Auftritte. Einzigartig, ja: nie dagewesen sei ihr Konzept einer „theatralen Video-Installation“ - nun, in der Euphorie neigt man zu Übertreibungen: Natürlich haben schon andere kluge Köpfe im Theater oder in der Bildenden Kunst die einzelnen Bestandteile dieser menschen-, aber nicht seelenlosen Aufführung kombiniert. Das Zusammenspiel von Bildender Kunst (hier in Form einer installativen Arbeit), Video, Sprache und Musik findet sich heute in den Werkzeugkasten auch der meisten konventionellen Stadt- und Staatstheater. Doch tatsächlich gewinnt die Arbeit ihren besonderen Reiz durch das Aufeinandertreffen von archaischem Inhalt, antikisierender Sprache und innovativer Ästhetik.

Herakles, so behauptet Heyme, sei „das brutalste Stück der griechischen Antike“. Die „Radikalität des euripideischen Textes“ sei einzigartig. Kindermord, Gattenmord, Blutrausch - nun ja, das hat Euripides stets besonders fasziniert, denken wir an seine blutrünstigen Tragödien wie Medea oder Die Bakchen. Aber hinter der pathetischen Erzählung von Mord und Totschlag, Machtspielen und Heldentaten, Rachegöttern und Höllenhunden steht auch ein politisches Drama. Denn nicht zuletzt geht es um die Auflehnung gegen die Herrschenden, um Tyrannei, vielleicht gar um die Infragestellung der attischen Demokratie einschließlich ihrer menschenfeindlichen Götter und um die Notwendigkeit zur Schaffung und Gestaltung einer neuen, besseren Welt. Heyme sieht hier Anknüpfungspunkte, wenn nicht gar Parallelen zum Zustand unserer gegenwärtigen Demokratie in Zeiten der Corona-Krise: zu unvermittelt und mit voller Wucht kollabierenden Systemen, plötzlichen Veränderungen von Wertesystemen und unsichtbaren Bedrohungen, die zu Grundrechtsdebatten und Verschwörungstheorien führen.

In der Tat mag das in Theben ähnlich gewesen sein, als der tyrannische Lykos sich auf den Thron geputscht hatte und Herakles voll guter mörderischer Absichten aus der Unterwelt zurückkehrte. Dort hat er eben die letzte der zwölf ihm von Eurystheus aufgetragenen Aufgaben erledigt. Doch die Stadt vom Tyrannen zu befreien, kommt Herakles teuer zu stehen. Derweil der Held in der Unterwelt geackert hatte, um den „schnöden Hund“ Cerberus ans Licht zu holen, waren daheim in Theben sein Vater Amphitryon, seine Frau Megara und seine drei Söhne von Lykos zum Tode verurteilt worden. Herakles sei wohl anlässlich seines Unterwelt-Abenteuers verstorben, glaubte man: Schwarze Trauerkränze schmücken die stilisierten Gestalten der Kinder in Heymes theatraler Installation. Es werden die Trauerkränze für sie selbst sein. Denn Herakles kehrt zwar rechtzeitig zurück, um Lykos zu töten, doch die dem unehelichen Sohn ihres Gatten Zeus nach wie vor zürnende Göttin Hera lässt den Helden in furchtbare Raserei versetzen. Grundsatzdebatten gibt es da sogar unter den Götterboten, zwischen Heras Vertrauter Iris und der in diesem Fall eher abwiegelnden Lyssa, die Wahnsinn und Wut zu verkörpern pflegt. Doch es hilft nichts: Im Wahnsinn (und im Irrtum) ermordet Herakles Weib und Kinder. Auch für ihn kollabiert das System, und für Theben zeichnet sich ein neuer Regierungswechsel ab.

Ob die sich anbahnende Freundschaft mit Theseus ein Happyend ist, ob die neue Allianz zu einer Beendigung des Kreislaufs von Schuld und Mord und tatsächlich in eine bessere, moralisch integrere Welt führt, erfahren wir in späteren Dramen oder Heldensagen. Heyme immerhin begleitet das Ende mit harmonischen Beethoven-Klängen. Doch Heyme wäre nicht Heyme, würde er die behaupteten Anklänge an die Gegenwart plakativ ausstellen. Im Gegenteil: Seine texttreue Aufführung wird - in der Übersetzung von Heinrich Bothe - zu einer Feier der Sprache. Das Team kennt keine Angst vor Pathos oder Deklamation. Die Wucht des Textes (und des Geschehens) wird dadurch eindrücklich beglaubigt, das Publikum zu größter Konzentration gezwungen. Hochmodern dagegen, wiewohl optisch in weiten Teilen so statisch wie der die Genealogie der Familien von Herakles und Lykos aufzählende Prolog, ist die Darstellung. Eine „Glotzen-köpfige Installation“ nennt Heyme seine Bühne - tatsächlich erinnert sie an manche Werke von Wolf Vostell, mit dem Heyme, wie er sich im Vorgespräch zur Preview erinnert, schon 1979 bei seinem grandiosen Hamlet zusammengearbeitet hat. Auf neun TV-Bildschirmen spielt sich die Geschichte ab, und die Anordnung der Glotzen spiegelt die Hierarchie im griechischen Theben wider: Unten sehen wir den Chor alter Männer: Heyme, den Meister persönlich selbstfünft, mit Wundverbänden am Kopf und einer Gesichtsmaske am Ohr. Sorgenvoll, barmend, manchmal fast weinend gar kommentiert der Chor das Geschehen. Drei Bildschirme in der Mitte sind dem Adel vorbehalten, den Mächtigen, aber Sterblichen: Herakles (André Lehnert), Amphitryon, Theseus (beide Thomas Hupfer), Megara und Lykos (beide Paula Scherf). Stets sind nur die sorgenvollen, auch einmal wütenden Köpfe der Protagonisten zu sehen. Die oberste Glotze aber, die wahre Kopf-Glotze, gehört den Abgesandten der Götter, die den Menschen in diesem Stück nicht wohlgesonnen sind: Iris und Lyssa. Bunt verfärben sich ihre Köpfe, kaleidoskopartig verschwimmen die Farben, wenn sie sprechen oder wüten, verführerisch und doch gefährlich. Zwischen Chor und Eltern hängen drei flache, stilisierte Figuren, kaum mehr als weiße Laken mit schwarzen Trauerkränzen. Es sind die Söhne des Herakles. Man erschrickt bei dem zischenden Geräusch, als sie fallen - ermordet durch ihren im Wahn verblendeten Vater. Es ist die einzige Bewegung, die außerhalb der Bildschirm-Welt dieser Aufführung stattfindet. Umso erschreckender wirkt sie.

Der Widerspruch zwischen der archaischen Sprache und der modernen, technisch anspruchsvollen Ästhetik macht einen großen Teil der Faszination der Aufführung aus. Die spannende, intellektuell fordernde Arbeit erscheint hervorragend geeignet zur angestrebten Präsentation in Museen oder alternativen Kunsträumen. Auch Schulen möchte das Team von disdance project ansprechen. Für Schülergruppen empfiehlt sich eine intensive pädagogische Vorbereitung. Zumindest eine rudimentäre Kenntnis der handelnden Figuren und ihrer Verankerung in der griechischen Mythologie ist angeraten. Dann aber kann es gelingen: dass die alte, aus fernen Zeiten herüberwehende Geschichte einen unwiderstehlichen Sog entwickelt.