Rehabilitierung eines Verräters
Vielleicht war es nur ein kleines Missverständnis, das zum Verrat führte, eine minimale Differenz zwischen Erwartung, Wahrnehmung und Realität. Judas vergötterte Jesus als seinen und des Volkes Führer, als „König der Juden“. Seine Erwartung: Jesus möge „die Römer niederschmettern“. Aktionen nach Kriegsherrenart also. Jesus aber lächelte. Er, vielleicht der erste Pazifist der Weltgeschichte, verstand sich als Friedensfürst. Und so kam es zur Katastrophe: zum Verrat, zur Verurteilung und zur Kreuzigung des Heilands. Aber halt: Wieso eigentlich Katastrophe? Was wäre, wenn diese Kreuzigung nie stattgefunden hätte?
Älter geworden ist Judas in den Jahren seit seinem Tod, und wahrscheinlich hat er auch ein bisschen zugenommen. Wie ein Entertainer steht Johannes Brinkmann vor uns: mit weißem Schlips zu weißem Hemd und weißem Anzug. Und wie ein biblischer Jünger Jesu barfuß in einfachen Sandalen. Brinkmann wird uns in den nächsten 75 Minuten seine Geschichte erzählen - die Geschichte des Judas, die wir alle zu kennen glauben. Aber, so kündigt er sicherheitshalber schon mal an, er wird unsere Erwartungen nicht erfüllen.
Damit hat Brinkmann geschickt unsere Erwartungen in die Höhe geschraubt. Um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen, beginnt er erstmal mit ein oder zwei blöden Jesus-Witzen. Vermutlich nicht ganz absichtslos dauert es ein paar Minuten, bis es Brinkmann gelingt, Spannung aufzubauen. „Aber“, so erzählt er, „es gab einen, der das besonders gut konnte.“ Dessen Name wird an diesem Abend nicht fallen. Wir wissen, wer gemeint ist. Das zeugt nicht nur von der Prominenz des Meisters: Den Namen nicht auszusprechen, zeigt auch den Respekt, den Judas vor dem Manne hat, dem er jahrelang gefolgt ist, den er noch heute verehrt und den er doch am Ende für ein paar Silberlinge verkaufte. Vor einem Mann mit dem Namen Judas dagegen hat man keinen Respekt. Der Name ist kontaminiert, in vielen Ländern als Vorname verboten. Dabei hatte sein Träger einst allen Grund, stolz darauf zu sein: Traditionell war es der Name des Erstgeborenen in einer judäischen Familie. Sein Träger fühlte sich auserwählt. Judas versucht ihn rein zu waschen. Und Lot Vekemans, die Autorin seines großartigen Monologs, rehabilitiert ihn. Sie lenkt den Blick auf eine vielseitige, auch widersprüchliche Persönlichkeit, auf eine facettenreiche Identität - kurz: auf den Menschen Judas in all seiner Komplexität. Denn er ist mehr als nur das Abziehbild eines Verräters.
Verrat - schon über das Wort lässt sich streiten. In den Evangelien wird von „Auslieferung“ gesprochen. Judas liefert einen Mann, dessen Verhalten nicht mit den Gesetzen und/oder den Normen der Mächtigen kompatibel ist, an den Rechtsstaat aus - und überlässt diesem das Urteil. Bert Aalbers spekuliert in seiner Dissertation, Judas habe möglicherweise nicht erwartet, dass die Hohepriester, denen zwar die Gerichtsbarkeit oblag, jedoch nicht die Vollstreckungsgewalt, Jesus zur Vollstreckung der Todesstrafe an die Römer ausliefern würden. Denn so etwas sei zuvor nie geschehen. - Eine Spekulation, wie gesagt. Was Judas in Vekemans‘ Monolog unter Beweis zu stellen versucht, sind die ethisch-moralischen Kategorien, auf denen sein Denken beruht. Und das auf vielerlei Ebenen.
Das beginnt ganz banal. Brinkmann schlurft mit der Kasse auf die Bühne, die in diesem Corona-Falle das luftige Treppenhaus der sonst eher engen Essener Studio-Bühne ist. Es ist die Kasse mit den Eintrittsgeldern. Einer habe nicht bezahlt. Das sei nicht anständig. Und so steigt Brinkmann in eine erste philosophische Betrachtung ein: die Differenzierung zwischen Ehrlichkeit und Anständigkeit. Unehrlichkeit könne er ertragen, aber mangelnde Anständigkeit sei nicht akzeptabel. In einem der wenigen Eingriffe, den die Regie dem starken, aus sich heraus wirkenden Text hinzufügt, wird diese Differenzierung noch einmal musikalisch deutlich gemacht: Es geht nicht um ABBAs „Money, money, money“, das da jemand unehrlicherweise gespart hat, sondern um Edith Piafs „Je ne regrette rien.“ Man mag - mit ganz aktuellem Bezug zum heutigen Zeitgeist - ins Nachdenken kommen: über Materialismus und Gier, über moralische Maßstäbe in Wirtschaft und Politik.
Vielfältig sind solche politischen oder philosophischen Bezüge. Brinkmann stellt seinen Judas als eine einfache, aber sensible und reflektierte Person dar. Er denkt nach über die Beurteilung des Menschen durch seine Umwelt: Ist der Wert des Menschen etwa abhängig von seiner Machtposition, von der Gestaltungsfreiheit, die er genießt, von seiner Religion? Ist es nicht vielmehr die Authentizität eines Individuums, die den Wert des Menschen bestimmt? - Judas reflektiert über den Zusammenhang zwischen Glauben und Zweifeln: „Glauben braucht keine Aktion. Zweifel schon.“ - Was für ein Satz, was für eine Setzung! „Alle wollen zurück zum Glauben, zum Ganz-sicher-Sein“, sagt Brinkmann, aber: „Wer zweifelt, muss sich entscheiden. Zweifel ist der Ansporn zu Taten.“ Und so stellt der große Zweifler Judas denn ein grandioses Thema für eine Oberstufen-Klausur im Fach Religion, Ethik oder Sozialwissenschaften in den Raum: Die Wertigkeit von Glaube und Zweifel unter besonderer Berücksichtigung der Psyche des Menschen. Auf welche Seite sich Judas stellt, ist eindeutig: „Wer nichts tut, kann nichts falsch machen. Aber auch nichts richtig.“
Judas spricht vom Gesetz der Dualität. Der Gegensatz zwischen Glauben und Zweifel wäre hierfür sicher ein Beispiel. Die Diskussion über den Stein, den Judas allenfalls als Mittel zum Kampf sieht, Jesus aber als Schutz für Tiere, ist wohl ebenfalls eines. Judas bezieht das Gesetz der Dualität aber auch ganz konkret auf seine eigene Geschichte: „Kein Licht ohne Schatten, kein Jesus ohne mich.“ Und so kommen wir wieder zurück auf die Eingangsfrage: War der Verrat eigentlich eine Katastrophe? Was wäre aus dem Christentum geworden, hätte es Judas nicht gegeben? Kein Kuss, kein Kreuz, keine Auferstehung. Wir würden wohl heute noch auf den Messias warten. - Lot Vekemans ist mit ihrem Text eine eindrucksvolle Rehabilitierung der Judas-Figur gelungen, und Johannes Brinkmann bringt den Monolog in Essen mit all seinen Facetten zum Klingen: wütend und poetisch, nachdenklich und impulsiv, pragmatisch und philosophisch, affirmativ und hinterfragend. Trotzig verteidigt Judas seinen kontaminierten Namen, den niemand im nicht vorhandenen Publikum mit ihm tauschen möchte. Er ist bereit, Verantwortung zu übernehmen, Strafe zu akzeptieren (die er durch seinen Selbstmord vorweggenommen hat). Aber er wirft sich nicht in den Staub. Doch quält ihn ein Zweifel: Hat er, der Meister, dessen Name an diesem Abend nicht ein einziges Mal fällt, ihm inzwischen vergeben?