Medeamaterial im Augsburg

Ein Schauspiel ist eine Komödie - ist ein Film

Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, seit letztem Jahr Leiter des Augsburger Brecht-Festivals, eröffnen das künstlerische Gedenken an den großen Sohn der Stadt in diesem Jahr mit einer eigenen Inszenierung. Zunächst in Kooperation mit dem Augsburger Staatstheater als Stück für die Bühne geplant, wurde schon früh deutlich, dass das Festival in diesem Jahr digital stattfinden muss. So begann das Produktionsteam schon bald, mit den Formen von Performance, Theater, Film und Musik zu experimentieren. Da es in diesem Jahr thematisch um die Frauengestalten um Brecht gehen soll, stellen die Macher Medea, die wohl archetypischste und berühmteste aller Frauengestalten der Literaturgeschichte dem Ganzen voran. Dass dabei nicht mit einem Brechttext, sondern mit dem Mittelteil aus Heiner Müllers Triptychon Verkommenes Ufer - Medeamaterial - Landschaft mit Argonauten gearbeitet wird, erklärt das Regie-Duo schlichtweg so: Heiner Müller hat die Schuhgröße, die Fußspuren Brechts auszufüllen und trotzdem eigene Wege zu gehen. Sei‘s drum.

Entstanden ist ein faszinierender digitaler Genre-Mix aus Müllers postdramatischer Textcollage mit kunstvollen realen und surrealen Bildern und Texten, geschichtlichen und politischen Assoziationen, die nicht immer leicht zuzuordnen sind. In einem Interview nach der Netzpremiere meinte der Theaterkritiker Stefan Keim, Kühnel und Kuttner schauten mit ihrem Medeamaterial in den „Kopf Medeas, in dem die Gedanken und Assoziationen rasen“. Recht hat er. Allerdings muss beim Zuschauen auch der eigene Kopf eine Menge Erinnerungen, Vermutungen, Verknüpfungen aktivieren um folgen zu können. Da erscheint Medea (Elif Esmen, Nathalie Hünig, Christina Jung) gleich dreifach in eitlos-schwarzem Kostüm, um kurz darauf von einer vergoldeten Ikone der Antike im Prunkgewand überblendet zu werden. Figuren gehen ineinander auf, Gesichter verschwimmen, filmische Effekte verwischen das eben gezeigte. Dann werden zeitgeschichtliche Figuren eingeblendet: Ulrike Meinhof verteidigt das Prügeln ihrer Kinder und gibt sie weg, da sie lieber Terroristin als Mutter sein mag. Bilder von Kafka, Müller, Schiller und Brecht werden ostentativ zerrissen. Die Goebbels-Familie erscheint in unscharfem Bild, dazu die makabre Begründung des Kindermordes, der Familienauslöschung aus dem Mund des Vaters, bevor das Foto in Flammen aufgeht. Verschiedene Sprachen werden übereinandergelegt, Texte von Musik und Geflüster überblendet und relativiert. Nicht minder verstörende Schwarzweiß-Bilder von der Schlachtung einer Kuh, von Gehängten, Kriegsszenen und Totenmasken wechseln übergangslos mit antiken Kunstwerken, oft in plötzlicher Ruhe oder bei idyllischer Beschallung. Zwischendurch auch immer wieder Zitate aus Engel der Verzweiflung aus Heiner Müllers Stück Der Auftrag, das die beiden Regisseure im letzten Jahr auf die Bühne brachten. Die Kette der Assoziationen reißt nicht ab: Pasolini erklärt relativ ausführlich seine Sicht auf die archaischen Gestalten, wie er sie in seinem Medea-Film sieht: Medea als „Heldin einer subproletarischen, archaischen religiösen Welt“. Jason hingegen ist für ihn „Held einer rationalen, säkularen modernen Welt.“

Am Ende die Gesichter der drei Medea-Darstellerinnen wie Totenmasken in Großaufnahme, dazu geisterhaft im Chor gesprochen: „ Ich - kein Weib - kein Mann. - Auf dem Grund aber Medea, den zerstückelten Bruder im Arm. - Medea, die Kennerin der Gifte“.

Ein ergreifendes Schlussbild.

Zweifellos ist dieses Zusammenspiel der Medien das Neue, Experimentelle dieses Festivals: erstmals sind alle Beiträge Uraufführungen. An zehn Tagen werden 23 Netzpremieren und Live-Talks geboten, die schon unter den Bedingungen der Pandemie von vornherein digital geplant wurden.