Übrigens …

Peer Gynt im Bochum, Schauspielhaus

Wenn Afrika und Frauen sich erheben

Ich bin ein Werwolf bei Nacht“, warnt Peer die furchtsame, aber von seiner legendären rücksichtslosen Männlichkeit neugierig-faszinierte Solveig bei ihrem ersten Zusammentreffen. Peer wird noch so manches sein im Verlauf des am Schauspielhaus Bochum auf circa 110 Minuten eingedampften Stückes: Lügenbold und vorgebliches Königskind, Herrscher eines Kalifats und Frauenheld: „Das Gynt’sche Ich, das ist ein Heer / Von Wünschen, Lüsten und Begehr.“ Ibsens Thema ist dem Theaterfreund vertraut: dieser Unterschied zwischen „Sei du selbst“ und „Sei dir selbst genug“, den der Autor in seinem… sagen wir: Identitätsdrama aus dem Leben eines Taugenichts wieder und wieder anspricht, diese Metapher von der Zwiebel ohne Kern, die Peer darstellt. Der Forderung, er selbst zu sein, wird Peer nie genügen auf seiner Reise durch die Welt oder die Phantasie (wie auch immer man das Stück auffassen will). Aber der Junge ohne festen Kern, ohne eigenes Selbst kann die verschiedensten Identitäten und Rollen annehmen. In Dusan David Parizeks Inszenierung am Schauspielhaus Bochum ist Peer vor allem erstmal eins: eine Petra.

SeitBeginn der Intendanz von Johan Simons unterläuft das Bochumer Theater souverän und mit großer Selbstverständlichkeit gewohnte Rollenmuster. Während anderswo mit offener oder unterschwelliger Aggressivität identitätspolitische oder feministische Kämpfe ausgefochten werden, schafft das Schauspielhaus Bochum einfach Fakten, und niemand regt sich auf. Und so gibt Anna Drexler bei Parizek den männlichen Nichtsnutz Peer Gynt, Michael Lippold ist Mutter Aase, und Mercy Dorcas Otieno, ihres Zeichens Person of Colour, spielt nicht nur die weibliche Anitra, sondern auch die männliche norwegische Mythenfigur, den Dovre-Alten. Diesmal aber werden die herkömmlichen Rollenmuster nicht nur durch den Besetzungszettel außer Kraft gesetzt, sondern die heute als frauenfeindlich empfundenen Figurenzeichnungen des Henrik Ibsen, der so starke Frauenfiguren wie Hedda oder Nora geschaffen hat, werden explizit adressiert. Überkommene Geschlechterbilder werden zu kommenden Geschlechterbildern in Beziehung gesetzt - mal indirekt, mal intellektuell, aber auch mit der Abteilung Attacke.

Zu Beginn spielt Anna Drexler den verlorenen, verlogenen Sohn Peer Gynt im Schlabber-Pulli und mit sexy Hotpants zur schwarzen Netzstrumpfhose. Da ist sie noch bei Mutter zu Hause und lügt ihr das Blaue vom Himmel herunter. Aus kleinbürgerlicher, dörflicher Enge kommend, zeugen ihre Lügenmärchen eher von der Sehnsucht nach Weite, nach einer Welt voller Abenteuer als nach Liebe, Romantik oder Macht. Noch ist man gewillt, dafür Verständnis aufzubringen. Doch Sexyness und Sehnsucht verlieren sich schnell zugunsten von Ichbezogenheit und Rücksichtslosigkeit, als Peer in die Welt hinauszieht: Drexler wird mehr und mehr zu einer androgynen Figur, die die verschiedensten Formen von meist unangenehm aufstoßender Maskulinität durchspielt - zunächst solche, die sich heute noch im Alltag beobachten lassen („der eine braucht Branntwein, der andere braucht Lügen“, sagt Mutter Aase dazu), später solche, die längst nicht mehr in die Zeit passen, aber in manchen Kreisen wieder salonfähig zu werden scheinen: den Frühkapitalisten zum Beispiel, den Kolonialherren oder den Gründer des Staates Gyntiana - „mein eigenes Kalifat“, wo die Frauen (jedenfalls Anitra) Eigentum des Mannes sind und im Falle einer Trennung auf nicht gerade feine Weise entsorgt werden.

Dabei denunziert Drexler nicht: Sie spielt das alles zwar temperamentvoll, aber auch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Das ist einerseits ein sympathischer, weil eher intellektueller, unangemessene Aggressivität vermeidender Ansatz, führt andererseits aber vorübergehend auch zu einer gewissen Schwerfälligkeit. Denn die Inszenierung ist klar für die analoge Bühne konzipiert; Parizek, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, macht keinerlei Zugeständnisse an die Ästhetik des Streams: keine Videos, keine bunten Farben, keine schnellen Schnitte. Stattdessen lässt er auf einer leeren rechteckigen Schräge spielen, die nach Bedarf mal steiler, mal flacher ausgerichtet werden kann und in der lebensgefährlichen Situation von Sturm und Schiffbruch fast senkrecht gestellt wird. Diese Inszenierungsweise ist mutig, konsequent und optimistisch im Hinblick auf eine baldige Öffnung der Theater, wirkt aber am Fernsehgerät (und wohl erst recht am Laptop) ein wenig spröde.

Doch die Sprödigkeit vergeht, wenn Mercy Dorcas Otieno und Anne Rietmeijer mit ihren Fremdtexten, die die manchmal hübsch gereimte Übersetzung des Ibsen-Dramas von Christian Morgenstern ergänzen, die eigentliche Botschaft der Inszenierung über die Mattscheibe bringen und wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler die aus wütendem Punk und harmonischem Grieg gesampelte, von Peter Fasching verantwortete Song-Auswahl zu Gehör bringen. Dorcas Otieno erweist sich dabei als eine wahre Queen of Soul. Sie wertet die Figur der Anitra deutlich auf und spielt und singt höchst selbstbewusst gegen Kolonialismus und Rassismus an: „Africa is rising up. Wir holen uns die Macht zurück.“ Die These, es gebe keinen Kapitalismus ohne Rassismus, mag diskutabel sein, aber wer will sich den mitreißenden Songs und Monologen (letztere sind zusammengesetzt aus einem Interview mit der ghanaischen Schriftstellerin Ama Ata Aidoo) in diesem Moment widersetzen? - Die herausragende Anne Rietmeijer gibt dagegen scheinbar eine charmante und geerdete Solveig, braun gelockt und mit strahlenden Augensternen. Sollte sich da etwa doch noch eine Ibsen-Figur mit sogenanntem überkommenem Geschlechterbild in die Aufführung geschlichen haben? - Natürlich nicht: Rietmeijer hat einen eigenen Text geschrieben, mit dem sie den westlichen Dramenkanon in Frage stellt. Als Peer nach seiner merkwürdigen Weltreise heimkehrt, sitzt da keine gealterte, blinde und immer noch blind verliebte Solveig wartend im Lehnstuhl, um die ewige Treue zu ihrem kernig-kernlosen Hallodri zu feiern, sondern eine junge, sympathische niederländische Schauspielerin. Und die droht in ihrem eigenen, nach Morgenstern- oder Ibsen-Art gereimten Text den Abschied ihrer Figur von der Theaterbühne an: verbindlich, freundlich, aber unmissverständlich: „Nach der nächsten Reise bin ich nicht mehr da.“