Übrigens …

Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden im Berlin/Mülheim

Die Bombe - Ein untauglicher Befreiungsversuch

Bei schwachem Dämmerlicht tapsen weiße Turnschuhe ins Bild, dann flackert im Hintergrund aus Leuchtstelen fahles Licht auf und lässt schemenhaft, dann immer deutlicher, seltsam schwankende Figuren erkennen. Erst eine, dann zwei, schließlich vier. Vier Frauen. Alle zum Verwechseln ähnlich. Alle Gesichter hinter halblangem Haar und dicken Hornbrillen versteckt. Alle in graugestreiften Alt-Männer-Bademänteln, jede über ein seltsames Gerät gebeugt, das Rollator, Infusionshalter oder aber auch Gestell für ein Spielgerät sein könnte. Später zeigt sich: ein fahrbares Mini-DJ-Pult. Dazu bedrohliches Rauschen und das monotone Tut-tut-tut wie auf einer Intensivstation. Und da sind wir tatsächlich. Chorisch beginnen die Gestalten mit ihrem Klagelied: Was wir hören, sind die „Geräusche des Beatmungsgeräts“ und „die Anzahl der Leute die, seit ich hier liege, als Patientinnen, in den Raum und als Leiche wieder hinausgeräumt wurden, lässt mich nichts Gutes erwarten.“ Aha! Das sind nicht Vier, das ist ein ICH. Und das stellt sich vor: „Apropos: Guten Abend. Ich bin die Verrückte mit der Bombe. Ich bin die Rachegöttin, die vom Himmel in diese Versammlung Hayek-gläubiger, marktradikaler Knallköpfe eingefahren ist.“ Das gleich in vielen Sprachen. Dazu Blitze, Rauschen, Knarren. Die „Detonation“. Allerdings ist da was schief gegangen: Der persönliche „Befreiungsversuch“ ist gescheitert. Die frustrierte Attentäterin hat überlebt und liegt zerfetzt im Krankenhaus. Es bleibt ihr Zeit, ihr Leben und Denken, ihren Selbst- und Systemhass Revue passieren zu lassen.

Tatsächlich geht es in diesem Text, einer Textfläche, die von Sibylle Berg als „Text für eine oder mehrere F“ und als „Das Ende einer Serie“ übertitelt wird, um den Lebensrückblick einer Person, wenn auch in vier Gestalten. Wobei die „Serie“, eine Tetralogie fürs Gorki-Theater geschrieben und jeweils von Sebastian Nübling inszeniert, 2013 mit Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen begann. 2015 folgte Und dann kam Mirna, 2017 Nach uns das All. Immer geht es um vier Frauengestalten im kapitalistischen System, immer sprechen sie chorisch, immer erscheinen sie entindividualisiert, uniform kostümiert. Jetzt , im Schlusstext, also nur noch eine Figur, die allerdings die anderen Frauen „Minna, Gemma und Lina“ aus den drei voraufgegangenen Stücken als frühere Freundinnen mehrfach in ihrem Rückblick erwähnt.

Und das, was Sibylle Berg uns pointenreich als Frauenschicksal in postneoliberaler Gesellschaft präsentiert und das von Nübling mit vier gleichermaßen virtuosen Schauspielerinnen (Anastasia Gubareva, Svenja Liesau, Vidina Popov, Katja Riemann) mit Wucht und überbordender Spiellust ins Bild gesetzt wird, das ist wohl nicht wirklich als Einzelschicksal gemeint, sondern über das Private hinaus als Wutschrei eines Kollektiven-Ichs.

Durch eine rockige Choreographie in ständiger Bewegung gehalten und durch Lieder und Klangstücke unterstützt führen uns die Figuren erzählerisch immer wieder vom Sterbezimmer, vom „Vorzimmer des Leichenschauhauses“, zurück in die Vergangenheit. Am Anfang des Rückblicks steht die resignative, selbstkritische Erkenntnis der Vergeblichkeit: „Ich habe eine Wut auf die Welt oder das System oder mich, weil ich alles verraten habe, oder haben wir wirklich einmal daran geglaubt, die Welt zu retten? Die lagen doch nur dekorativ herum, die Bücher, die feministischen, marxistischen, queeren, während wir lieber Serien geschaut haben“. Selbst der furiose Knall des Sprengstoffs versagte als Rache gegen die eigenen Depressionen. Der „bewaffnete Widerstand“ verpufft zur zweitägigen Berichterstattung über einen „feigen Anschlag einer verwirrten Einzeltäterin“. Da bleiben nur Frust und Selbstmitleid.

Dabei hatte sie es versucht mit dem üblichen Belohnungssystem der marktwirtschaftlichen Konsumgesellschaft: besaß einen Loft in der City, eine Zweitwohnung an der Südseite der Còte - bei fünfzehntausend Euro Monatseinkommen. Sie schien zu funktionieren im Geflecht „durchschnittlichen, mitteleuropäischen Daseins“. (Kommt mir allerdings eher überdurchschnittlich vor.) Die hässlichen Bademäntel sind längst abgestreift und man trägt vorübergehend Schlabberkleider im Leoprint. Doch dann war es ein Mann, der Chef, die Verkörperung der „trägen Dummheit jahrtausendealten Patriarchats, ein Idiot“, der sie mit fünfzig entließ und in die Sozialhilfe schickte.

Alte Beziehungen tauchen auf: Ihre letzte Beinahe-Liebe, ein Diverser, zu dem sie sich nicht bekennen mochte. Die Tochter, die ihre Mutter beschuldigt, der nächsten Generation die Welt als Schrotthaufen zu hinterlassen. Sie ruft bei ihr Erinnerungsfetzen an die eigene Jugend auf, an zerrissene Hosen und „Fck-Nazis-Lederjacken“ und den neidischen Blick auf die „Coolen, Blonden, Schönen“, für die sie immer Außenseiterin blieb.

Ihr Fazit: „Mein Leben besteht nur aus der Imitation der Bilder, die das System in mein Unterbewusstsein geladen hat“. Da bleibt nur die Bombe gegen die Banalität und Belanglosigkeit einer gescheiterten Existenz, eines „gegen die Wand gefahrenen“ Lebens. Wobei auch das am Ende nicht sicher ist.

Aus dem monologischen Gespinst aus System- und Selbsthass, aus süffisanten Glücksentwürfen und selbstgefälligem Selbstbetrug, mal chorisch, mal als Solo gesprochen, rezitiert oder psalmodiert, bricht ein groteskes Solo der Schauspielerin Svenja Liesau heraus. Mit einer Schnapsflasche in der Hand torkelt sie als Betrunkene an den Bühnenrand (im Stream wird der Spot auf sie gerichtet), verlässt ihre Rolle und beginnt die Souffleuse zu attackieren, wendet sich dann direkt ans Publikum (was bei der gestreamten Aufführung tatsächlich im Saal sitzt), und endet nach lockerem Palaver mit dem augenzwinkernden Hinweis, dass in der Flasche ja gar kein Schnaps sei. Eine höchst komödiantische Lachnummer im sonst doch eher melancholischen Geschehen.

Sibylle Berg spießt auf. Pointiert, sarkastisch und mit böser Ironie benennt sie Probleme, scheut dabei auch nicht vor dem einen oder anderen Klischee zurück, verweist auch mal auf Freud oder Heidegger (wir bewegen uns ja in anspruchsvollem Milieu), überlässt es aber dem Publikum, Schlüsse zu ziehen, Lösungen zu suchen.

Beim Schlussstück der Tetralogie gelingt es Sebastian Nübling wiederum, sowohl Sprachwitz als auch Gesellschaftskritik der Autorin als virtuoses Theater zu präsentieren. Als Bühnentheater, das auch als Stream seine volle Kraft entfaltet. Hin und wieder hätte jedoch - trotz des Berg’schen schwarzen Humors - etwas weniger Komik und Rock der ernsten Grundstimmung des letzten Teils der Serie - im Gegensatz zu den drei vorangegangenen - besser angestanden.Dann bleibt da noch die Irritation ob der Diskrepanz zwischen dem Text, der sich wie die verheerende Lebensbilanz einer zu Tode verletzten Attentäterin liest (und auch wortgetreu vom dramatischen Ich wiedergegeben wird) und dem höchst lebendigen, körperlich unversehrten Ladyquartett: Vielleicht doch alles nur ein böser Traum?