Übrigens …

Stummes Land im Mülheim/Ruhr

Was du ererbt von deinen Vätern…

Daniel und Soska sind sich einig: „Jeder hier ist ein Rassist.“ Mit „hier“ sind vordergründig die vier gemeinsam in der DDR aufgewachsenen Schulfreunde gemeint, die sich nach vielen Jahren und erfolgreicher Nachwende-Karriere erstmals wiedertreffen. Eigentlich ist der Satz in Thomas Freyers Drama Stummes Land aber auf alle Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands gemünzt. Und da geht das Problem schon los: Dass er sich nur auf den Osten konzentriert, wurde Freyer in teilweise aggressiver Form vorgeworfen. Rassismus ist nicht auf den Osten beschränkt. Aber mit welcher Berechtigung könnte die Öffentlichkeit einem Autor die Wahl seines Untersuchungsgegenstandes vorschreiben? Die Eingrenzung hat Freyer gut begründet: Er will herausfinden, ob sich der (im Osten zweifellos verbreitetere) Rassismus aus der Geschichte des antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaates herleiten lässt. Das scheint ein legitimes Unterfangen zu sein.

Doch der Ärger vieler Rezensenten und Zuschauer ist da, und so kippt man weiteren Müll über Stück, Autor und Inszenierung aus: Die Schauspielerinnen und Schauspieler werden angegriffen: Von „ziemlich unbeholfen aufgesagt wirkenden Dialogen“ ist die Rede. Der Autor habe einen unbändigen Hass auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, wird insinuiert; sein Text unterschlage die Vielfalt der Meinungen und Haltungen in unserem Land. Hut ab vor den Verteidigern unserer Gesellschaftsordnung, aber solche Argumente hat der Schreiber dieser Zeilen in Rezensionen der linksradikalen Inszenierungen von Volker Lösch (den ich übrigens sehr schätze) noch nie gelesen. Als überzeugter Kämpfer für Maß und Mitte war ich also skeptisch, als das Streaming begann.

Und fand als erstes die Unbeholfenheit. Die allerdings ist nicht den Schauspielerinnen und Schauspielern vorzuwerfen, sondern der Covid-Seuche. Benjamin Pauquet, Karina Plachetka, Oliver Simon und Fanny Staffa geben die vier armen reichen Schulkameraden, die sich unter Wahrung von Abstands- und Hygieneregeln mit gigantischen Abständen rund um einen quadratischen Tisch gruppieren und einander nur ins Wort, aber nicht in die Arme fallen dürfen. Das ist Schrott, aber weder dem Regisseur noch dem Ensemble vorzuwerfen. Man vergisst es auch schnell, denn nach kurzer Anlaufzeit haben sich die vier Akteure in ihre Rollen eingefunden und geben ihren Figuren unverwechselbare Profile. Ihre Variabilität werden sie im Verlauf des Abends noch unter Beweis stellen, denn Text und Inszenierung gliedern sich in drei formal und inhaltlich sehr, sehr unterschiedliche Akte, die von den Schauspielerinnen und Schauspielern extreme Wandlungsfähigkeit verlangen. Es sei vorweggenommen: Sie bewältigen diese Aufgabe grandios.

Im etwas boulevardesken, aber brisanten ersten Teil steht der Alltagsrassismus in der heutigen Gesellschaft im Vordergrund. Nach einigem Geplänkel kommen die vier Schulfreunde zur Sache: Jeder möge eine Situation schildern, in der er fremdenfeindlich oder rassistisch gedacht oder gehandelt habe. Laura, eine aufrechte Kämpferin für Gleichberechtigung und gegen geschlechtsspezifische Gewalt, sieht einen Flüchtling in ihrem Müll wühlen. Es stört sie, und sie erkennt: Hätte es sich um einen Obdachlosen gehandelt, wäre dieses Störgefühl ausgeblieben, denn der wäre „einer von uns“. Daniel meidet den Park, in dem sich regelmäßig eine syrische Familie aufhält. Er denunziert diese schließlich bei der Polizei. In Soskas Haus wohnt ein junger Türke, den er durchaus als angenehmen Zeitgenossen empfindet. Aber wenn nachts die Freunde des Türken zu Besuch kommen, befällt ihn eine undefinierbare Angst. Von seinen eigenen Reaktionen irritiert, analysiert Soska: „Deine Angst steckt irgendwo hinten im Kopf. Vorn hast du ein Gehirn, das filtert und das verkündet, dass diese Angst in Fremdenfeindlichkeit umschlägt.“ Daniel, Esther, Laura, Soska: sie schämen sich für ihre Gedanken. Sie wissen um ihren Alltagsrassismus – und versuchen ihn zu verdrängen. Esther ruft widerwillig, aber voller schlechtem Gewissen aus: „Ich muss mir doch nicht ständig einreden lassen, was für ein schlechter Mensch ich bin.“

Ist sie ja auch nicht – haben wir solche Gedanken nicht alle schon gehabt? Auch wir im Westen – da gibt es keinen Unterschied. Die vier Protagonisten sind keine schlechten Menschen. Freyer denunziert sie nicht. Er beschreibt und erklärt den Alltagsrassismus, der oft aus unbegründeter Angst resultiert. Schauen wir einmal auf kleine Kinder, auf Menschen, die ihre Dorfgemeinschaft lebenslang nicht verlassen haben: Sie haben Angst vor dem Fremden, resultierend vermutlich aus einer jahrtausendealten Erfahrung aus der Evolutionsgeschichte: Das Fremde bedeutet Gefahr. Als Eltern, als Menschen mit größerem Erfahrungshorizont können wir solchen Reflexen entgegenwirken. Aber Freyer geht es um etwas anderes – nicht um die Evolutionsgeschichte, sondern um die der DDR.

Begonnen hatte die unselige Diskussion des 1. Akts mit Lauras kopfschüttelnder Bemerkung, ihr Vater halte „die liberale Demokratie für eine überholte Übergangslösung“. Auch für Soska ist der Rassismus etwas, was „wir von unseren Vätern gelernt“ haben. Tatsächlich rauscht zu Beginn des zweiten Teils eine prallvolle Mülltüte aus dem Schnürboden herab. Sie ist gefüllt mit dem Ballast der Vergangenheit - dem Erbe der Väter. Der zweite und stärkste Teil des Abends berichtet von Faschismus und Fremdenfeindlichkeit in der frühen DDR, in der Alt-Nazis instrumentalisiert und in die Machtstrukturen des Militär- und Polit-Apparats, der Staatssicherheit und der Spionageaktivitäten integriert wurden. Das war in der Bundesrepublik nicht anders, wurde aber in der stalinistischen Diktatur des Ostens mit härteren, erpresserischen Mitteln betrieben. In Spielszenen berichten Laura, Esther, Soska und Daniel von den Erfahrungen ihrer Kindheit mit emotional fernen Vätern, die den Aufstand vom 17. Juni 1953 niederschlugen, die am Mauerbau beteiligt waren, die nach moralischen Maßstäben Unschuldige ins Gefängnis brachten oder zum Selbstmord trieben – und deren Tätigkeit auch in der Familie geheim blieb bzw. verdrängt wurde. Verschwiegen wurden auch die Demonstrationen der unter unwürdigen Bedingungen untergebrachten algerischen Gastarbeiter, die 1973 gegen die „DDR-Faschisten“ opponierten und niedergeknüppelt wurden. Eine erschreckend nationalistische Thälmann-Rede wird zitiert. FDJ-Lieder erklingen, und Esther steckt den Kopf in den Sand. Ihr Satz wird auch zum Mantra der anderen: „Ich weiß von nichts. Ich bin noch ein Kind.“

Und so etablierte sich eine Kultur des Verdrängens und Verschweigens. Nicht verschwiegen wird bei Freyer aber, dass auch der – packend und suggestiv geschilderte – Aufstand vom 17. Juni 1953 revanchistische Züge hatte. Die erste Strophe des Deutschland-Lieds wurde gesungen, die Revidierung der Oder-Neiße-Grenze gefordert. Das war zu jener Zeit im Westen nicht anders – aber einen undifferenzierten Blick kann man dem Dramatiker Freyer nicht vorwerfen.

Der dritte Teil besteht aus einem langen, oft chorisch gesprochenen Monolog in großartig rhythmisierter Sprache. Ohne konkrete Geschehnisse anzusprechen, handelt er von krassen Vorfällen aggressiver Fremden- und Flüchtlingsfeindlichkeit im 21. Jahrhundert und zitiert gruseliges identitäres Gedankengut. Man erkennt Motive und erinnert (ganz hinten im Kopf, da, wo bei Soska die Angst saß) brennende Flüchtlingsheime, Angriffe auf Busse und einzelne migrantisch anmutende Personen, aber es gibt auch reichlich Kapitalismuskritik. Sprachlich ist dieser Monolog herausragend gelungen, wobei Freyer sich erkennbar an dem raunenden Pathos des deutsch-deutschen Dichters Heiner Müller orientiert hat („Ich hänge meine Fahne raus zum Trotz. Wer mir das nehmen will, den hänge ich daneben.“) Das versetzte, manchmal kanonartige chorische Sprechen gelingt dem Ensemble grandios.

Und alle Toten brennen heiß.“ Freyers Thema wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven und auf drei unterschiedlichen Ebenen untersucht. Der Autor denunziert nicht, und er äußert auch keinen pauschalen Hass auf die Verhältnisse in Deutschland, wie es ihm Teile der Theaterkritik unterstellen. Stattdessen hält Freyer seinem deutschen Publikum zunächst einen Spiegel, dann einen Zerrspiegel vor. Er ruft auf zu Umkehr und Selbstreflexion sowie zum Widerstand gegen die eigenen Vorurteile. Denn immer noch wird verdrängt. Stummes Land, lauter Applaus! - Und großes Theater.