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9/26 Das Oktoberfestattentat im Mülheim/Ruhr

Solang ich Schmerzen hab, leb ich

Die Bühne ist dunkel, aus dem Off tönen Achtziger-Jahre-Hits (Musik: Anton Kaun). Zu „Daddy Cool“ von Boney M. tauchen schemenhaft hip kostümierte junge Leute auf, reden auf Bayrisch durcheinander, tanzen umeinander und werfen sich scheinbar wahllos Begriffe und Satzfetzen zu, die dann aber doch eine Wort-Collage zum Jahr 1980 ergeben: Aerobic, Hip-Hop, Gründung der Grünen, Dallas, Schulterpolster, Jackson, Madonna, Reagan und vieles mehr. Dabei wird auch der politische Hintergrund skizziert: Kanzler Helmut Schmidt und CSU-Boss Franz Josef Strauß werden im Urton eingespielt. Dann greifen die Figuren nacheinander zum Mikrophon und stellen sich vor: bis auf Stefan Merki, Schauspieler an den Kammerspielen und Zeitzeuge, haben alle anderen (Marie Dziomber, Rasmus Friedrich, und Edith Saldanha) gerade ihr Schauspielstudium absolviert und das Jahr 1980 nicht selbst erlebt.

Das Bühnenbild ändert sich, am Bühnenhimmel schweben blau-weiße Luftballons und auf leicht wehende Gaze-Vorhänge werden Bilder vom Oktoberfest,der Münchner „Wiesn“, projiziert. (Bühne: Evi Bauer) Laut erklingt Diana Ross‘ „Upside down“ und tanzend schlüpfen die Schauspieler*innen in die Rollen fröhlicher Wiesngäste und stellen sich erneut vor, diesmal als die Personen, die sie darstellen werden: Brigitte Hossmann, Robert Höckmayr, Dimitrios Lagkadinos, Hans Roauer und Claudia Zimmerer. Man plaudert vom Karussellfahren, von Zuckerwatte und warum man am 26.9. 1980 gerade gegen 22:19 Uhr zum Ausgang der Wiesen strebte.

Dann: Ein Blitz, Dunkelheit, Stille. Das Oktoberfest-Attentat!

Unter flackerndem Licht berichten die fünf Überlebenden, wie sie den Terroranschlag 1980 erlebten, mit schwersten Verletzungen überlebten. Dokumentarisch, ergreifend und verstörend zeichnet sich das Bild einer unglaublichen Katastrophe aus der Erinnerung der Betroffenen - vierzig Jahre nach dem Geschehen. Sie berichten von entsetzlichen Schockmomenten, von zerfetzten Menschen, von Blutströmen, Schreien und Stöhnen, von ihrem Grausen, von körperlichem und seelischem Schmerz noch lange danach, von Amputationen, Traumata, Suiziden und auch von Versuchen, zu vergessen und zu verdrängen.

Erst viel später erfuhren die meisten vom Ausmaß der Verwüstung: 13 Menschen starben, 221 wurden verletzt, nicht mitgezählt die Traumata und Lebenseinbrüche, die Leiden um den Verlust lieber Menschen, der Eltern und Geschwister. Zu all dem kommt das Gefühl, als Opfer nicht ernst genommen worden zu sein. Ihre Augenzeugenberichte wurden kaum beachtet und verwertet. Allzu schnell wurden die Akten im November 1982 geschlossen, der rechtsradikale Terroranschlag zur Tat eines einzelnen, der beim Attentat umkam, erklärt. So passte es wohl besser in die politische Landschaft.

Hier fragt die Recherche von Christine Umpfenbach nach. Gemeinsam mit Rechtsanwalt Dietrich durchleuchtet sie den politischen Hintergrund, setzt nicht zuletzt aus den Erinnerungen und Beobachtungen der Überlebenden ein Puzzle zusammen und zieht Schlüsse, die auch die Polizei hätte ziehen können und müssen. Als es 2014 tatsächlich zu einem Wiederaufnahmeverfahren kommt, stellt sich heraus, dass alle Asservate vernichtet und die meisten Akten unauffindbar sind.

In eindringlichen Spielszenen wird von dieser Wiederaufnahme berichtet: beim Generalbundesanwalt ereignen sich verwirrende und erniedrigende „Verhöre“, ein Betroffener fragt sich, ob am Ende das Opfer zum „Mittäter“ gemacht werden kann. Noch deprimierender verlaufen die entwürdigenden Gespräche beim Versorgungsamt, die gleichfalls in Szene-Fragmenten nachgespielt werden, in denen die Überlebenden als „Simulanten“ und „Betrüger“ bezeichnet und „wie ein Stück Dreck“ behandelt wurden. „Solang ich Schmerzen hab‘, leb‘ ich“, wappnet sich ein Betroffener gegen die Erniedrigung.

Die Stärke des Stückes liegt in der Rekonstruktion des Attentates aus der Perspektive der Überlebenden und der überzeugenden Weise, wie deren dokumentarische Aussagen aus den Interviews von den Darstellenden an uns weitergegeben werden. Denn die Opfer leiden bis heute.

Zur Ernsthaftigkeit des Themas unpassend wirken die Szenen, in denen Franz Josef Strauß mit seiner Familie in einer Persiflage mit großen, fotogetreuen Masken als rechter Politiker vorgeführt wird. Die ihm zuzuweisende Rolle würde auch ohne diese bizarren Einlagen deutlich.

Das Stück, das ansonsten mit ganz wenig Requisiten und Spieleffekten auskommt, da die Bilder zum Geschehen im Kopf des Zuschauers entstehen, kam im Oktober auf der kleinen Bühne im Werkraum der Münchner Kammerspiele zur Uraufführung, wurde dann aber coronabedingt gestreamt. Tatsächlich bringt auch der Stream die Botschaft des Stücks eindringlich rüber und wurde zu den Mülheimer Theatertagen Stücke 2021 als eine der sieben besten Uraufführungen des Jahres eingeladen.