Man muss nur wissen, man hat niemals ein Zuhause
Major Tom hat überlebt, die Erde nicht. Das Licht der Sonne hat eine krankhaft gelbe Farbe. Die Welt, zumindest die Erde, ist verbrannt nach einer ultimativen Katastrophe. Doch ein Raumschiff landet, mit den vielleicht letzten Lebewesen. Umständlich schält sich die Besatzung aus ihren Raumanzügen. Clemens Dönicke, mit Helm und gläsernem Visier geschützt vor den feindlichen Lebensbedingungen des Planeten, auf dem er gelandet ist, beginnt zu erzählen: Der Mensch hat geforscht, hat Daten angesammelt und Ziele definiert, um die Katastrophe zu verhindern, aber er hat nicht gehandelt. Und nun ist sein Planet perdu.
Reflexartig denkt man bei diesem Szenario an die Klimakrise. Aber Bert Zanders zwischen Trauer, Wut und Poesie changierende Inszenierung ist gedanklich breiter angelegt. Zu Gehör kommt eine Collage von Texten der denkbar unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren sowie eigener Lebenserinnerungen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Dönicke blickt mit Willemsen zurück auf die Menschheitsgeschichte: auf die Primaten, aus denen der Mensch entstand und auf die Entwicklung, die der Mensch seit dem Primaten-Dasein nahm. Willemsen ist vor mehr als fünf Jahren verstorben, aber seine Analyse unserer Gegenwart und unserer Geschichte ist hochaktuell: Wenn man es recht bedenkt, war überall Schiffbruch. Die Entwicklungsgeschichte war kein Erfolg.
Wie auch? „Am Anfang schuf Gott Hölle, Teufel und Kinder." Das sind keine guten Voraussetzungen, und natürlich sah Gott, dass es schlecht war. Aber alles wurde noch schlechter: die Manieren, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten. Die Krise nannte man Klimaerwärmung, Burnout, Überbevölkerung, Artensterben – vielleicht auch Finanzkrise, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass Willemsens Text so schön ist, so schwebend zwischen Fakten und Poesie, so funkelnd in seiner sprachlichen Perfektion, dass man süchtig nach diesen Krisen werden könnte. Der Text von Roger Willemsen ist mit Abstand der stärkste der nur wenig mehr als einstündigen Aufführung. Er steht am Anfang des Abends und bildet einen hochpoetischen, melancholischen, pessimistischen, aber auch humorvollen Monolog. Man ahnt, das wird ein ganz, ganz dunkler Abend. Und man richtet sich ein, so dass man fast verpasst, wenn plötzlich Hoffnung einzieht. Aber dazu später.
„Wer wir waren“, heißt dieser Text von Willemsen. Und tatsächlich blicken die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler nun auf das zurück, was sie waren. Dazu sprechen sie eigene Texte, die aus wahren biographischen Details und fiktionalen Elementen zusammengestellt sind – wobei nicht immer leicht zu unterscheiden ist, was autobiographisch und was fiktional ist. Denn alle haben sich literarische Texte ausgesucht, in denen sie ihre Biographie, ihre Ängste und Sehnsüchte oder ihre politischen oder gesellschaftlichen Einstellungen gespiegelt fanden und die sie nun sprechen, als handele es sich um ihre eigenen persönlichen Erfahrungen. Torsten Bauer, bald 60 Jahre alt, hat sich in eine enge rote Hose und ein weißes Tütü-Röckchen gezwängt und beginnt mit Daniel Schreibers Essay Zuhause. Bauer ist – no kidding - im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat geboren, und zwar exakt am 13. August 1961, als mit dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls begonnen wurde, den sein Vater als Grenzsoldat bewachen musste. „Früher war Zuhause der Ort, von dem man kam“, heißt es bei Schreiber. Bauers eigenes Zuhause wurde am Tag seiner Geburt zu einem Gefängnis, gegen das er sich auflehnt, wie auch gegen seinen Vater und dessen Beruf. - Agnes Lampkin, die in England aufgewachsene Person of Colour, die im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie in die Schweiz umzog, findet sich wieder in Interview-Texten und Lyrik der namibisch-stämmigen, aber schon „im Bauch meiner Mutter nach Deutschland gekommenen“ Stefanie-Lahya Aukongo. Aukongo spricht von ihrem „weißen Schatten“ – aufgewachsen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft übernimmt sie Schönheitsideale und kulturelle Wertvorstellungen, die sie aufgrund ihrer Herkunft hinterfragen zu müssen glaubt. Sie erkennt ihr verborgenes koloniales und kulturelles Wissen, vermutlich weil sie in Deutschland auf den Alltagsrassismus der Nachfolgegenerationen derjenigen trifft, die sich einst ihr Herkunftsland, das frühere Deutsch-Südwestafrika, untertan machten. Lampkins Texte sind bisweilen von großer poetischer Qualität, dann wieder durchzogen von aktivistischem Furor. - Aus ganz anderer Richtung nähert sich Anna Polke ihrer Vergangenheit: Sie hat sich Ulla Hahns Das verborgene Wort ausgesucht. Im blauen Anzug mit Gretchen-Zopf beginnt sie mit märchenartigen Motiven, doch ihr Hänschen Klein war en Kaninchen, das zuhause wohl in die Suppe kam. Polke, die Tochter des Malers Sigmar Polke, dürfte etwas andere Erfahrungen mit ihrem Elternhaus gemacht haben als Ulla Hahn, die Tochter eines nicht nur bildungsfernen, sondern wohl gar bildungsfeindlichen ungelernten Arbeiters, findet aber offensichtlich Identifikationspotential in Hahns ebenfalls stark autobiographisch geprägtem Roman. – Christian Bayer arbeitet sich an Édouard Louis‘ Wer hat meinen Vater umgebracht? ab – einem Text, der im Original zunächst eine Abrechnung mit seinem Vater zu sein scheint, dann aber zu einer Abrechnung mit dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wird.
Bauer/Schreiber, Polke/Hahn, Lampkin/Aukongo, Bayer/Louis: In allen Texten und persönlichen Rückblicken wird ein kritischer, teilweise vernichtender Blick auf das eigene Zuhause geworfen. Es will scheinen als hätte die jeweilige Elterngeneration (bei Lampkin eher die Gesellschaft und die politische Vergangenheit) verbrannte Erde hinterlassen, so wie sie im Eingangsbild beschrieben wird. Doch plötzlich schleicht sich so etwas wie Hoffnung ein. Der Schlüssel zu Hoffnung und Versöhnung heißt Vertrauen, Mut und Überwindung von Konfliktlinien. Bauer berichtet von einer spät geweckten Sehnsucht nach seinem Zuhause, entstanden beim Betrachten alter Bilder und durch die Erinnerung an eine gütige, strenge Großmutter. Bayers alptraumhafte Erzählung von einer suizidal anmutenden Autofahrt mit dem Vater endet damit, dass dieser das Lenkrad herumreißt und parallel zum Meer fährt, so dass der kleine Sohn das erhebende Gefühl hat, über das Wasser zu gleiten – statt Angst kann er Vertrauen zu seinem Vater haben. Nur eine der beiden Schwestern aus Ulla Hahns Roman darf das Gymnasium besuchen, aber auch die andere, leistungsstärkere, macht eine hervorragende berufliche Karriere, und die Gemeinde sagt Kostenbernahmen für die Ausbildung der Kinder zu. Es gibt immer Auswege, zeigt Polkes Erzählung auf – und ruft zu Vertrauen und Selbstvertrauen auf. Bei Lampkin/Aukongo heißt es schließlich: „Ich traue mich, sichtbar zu sein.“ Und: „Verletzlichkeit ist Liebe.“
Luna Schmid im Raumfahrer-Schutzanzug steigt wieder in den Willemsen-Text ein: „Die letzte Epoche der Utopie hatte begonnen.“ Von vermeintlichen Utopien handelt der dritte Teil von Zanders Inszenierung. Die Schauspieler, die mit Ausnahme des Erzählers / der Erzählerin im Raumfahrer-Anzug während der gesamten Inszenierung nicht persönlich anwesend sind, sondern als Hologramme in den Nischen des Bühnenbilds herumgeistern, werden nun zu einem kitschigen Familienbild verschoben. Zu Mut und Stärke wird aufgerufen, zu Veränderungsbereitschaft und dem Willen anzupacken: „Dadurch, dass ich mich verändere, verändert sich die ganze Welt.“ Individuelle Macht und der Zwang zu individueller Selbstoptimierung verwandeln sich in kollektive Selbstermächtigung. Lampkin ruft zu „African Pride“ auf – ihre Utopie lautet: „Wir sind gewollt.“ Für viele ist das längst keine Utopie mehr, aber, wie es auch einmal in der Inszenierung heißt, in Krisenzeiten nimmt die Intoleranz wieder zu. – Die Inszenierung hatte mit einem apokalyptischen Szenario begonnen, aber sie endet mit einem Funken Hoffnung. Ein munteres Lied von Georg Kreisler hatte man eingespielt: „Man muss nur wissen, man hat niemals ein Zuhause“.