Melancholie, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit
Nebraska – da denkt der Weltenbummler an Flyover Country, once upon a time in the Midwest. Der Freund der Rockmusik dagegen denkt an Bruce Springsteen, an das gleichnamige Album, das er im Januar 1982 in seinem Schlafzimmer aufgenommen hat. Technisch war das nicht das hochwertigste seiner Alben, aber es hatte einen Flow. Sie ahnen es schon: Der Musikfreund liegt richtig, wenn es um Wolfram Hölls neuestes Stück geht.
Auch das ist technisch nicht Hölls hochwertigstes, aber auch das hat einen Flow. All den Motiven und Figuren aus Springsteens Album begegnet man wieder auf der Bühne des Theaters Oberhausen – man schaue sich nur die Tracklist der CD an: Da gibt es „Atlantic City“ mit seinen Kleinkriminellen, da gibt es den „Highway Patrol Man“ und den „State Trooper“ – und „Used Cars“ könnte auch der Titel des Prologs in Elsa-Sophie Jachs Uraufführung sein: Weil sein Töchterchen bei der Besichtigung ihr Eis auf die Sitze tropfen lässt, kauft Papa aus schlechtem Gewissen einen Gebrauchtwagen, den er sich eigentlich gar nicht leisten kann. Dennoch schimmert in dieser Episode noch ein wenig von dem amerikanischen Traum durch. Es ist ein wunderschönes Auto, das die Familie kauft, und wenn die kleine Tochter zu Hause endlich einmal hupen darf, gibt es zumindest für sie einen kleinen hoffnungsvollen Moment. Der Zuschauer dagegen spürt die traurig-schöne Melange aus Melancholie, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit.
Wir sind in Atlantic City. Spätestens seit Louis Malle und seinem Film aus dem Jahre 1980 wissen wir, dass Atlantic City die Inkarnation des gescheiterten amerikanischen Traums ist. Marlene Lockemanns Bühnenbild zeigt das ebenso deutlich wie die Kostüme von Elisabeth Weiß: Die Bühne zitiert Bilder von einem abgehalfterten Vergnügungspark; zu Beginn sind die Schauspieler – kreuz und quer crossgender besetzt – in bonbonfarbene Tüllkostüme gesteckt und tragen die Schärpen von Reality-TV-Stars oder ärmlichen Schönheitsköniginnen: „Prom Queen“, „Miss Rodeo“, „Winner“ oder einfach: „Vote For Me“. Atlantic City: die Stadt der Freizeitparks, Casinos und Miss America Wahlen, die so krass hinter ihren selbst gesetzten Ansprüchen und Zielen zurückbleibt – will man der Stadt entfliehen, geht es in die endlose Weite und trostlose Einsamkeit des Binnenlands, die Lockemann durch verbogene Strommasten und sich wellende Leitungen andeutet. Der Zuschauer schaut und sieht: eine traurig-schöne Melange aus Melancholie, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit
Nicht weit von Atlantic City, in irgendeinem Provinznest in New Jersey, ist es zunächst die Fleischfabrik, die den Betrieb eingestellt hat und gesprengt wird.: „… bald wird die ganze Stadt / verschmort / nach verschmortem Fleisch / riechen“. Dann macht die Autofabrik dicht. Und schließlich „geht's auch noch an die Menschen": Bei der Autofabrik hat man einen Wachmann ermordet. Hank, der Polizist, cool unterspielt von Carlotta Freyer, macht sich auf den Weg zum Tatort und wird ebenfalls erschossen. Mary und Max (Agnes Lampkin und Julius Janosch Schulte) hauen ab, ziellos, aber mit dem festen Willen, „aus dem Herrschaftsgebiet von Corned Beef (zu) entkommen“. Unterwegs treffen sie auf den schwarzen Cadillac, mit dem der Mörder unterwegs ist. "Cadillac, Cadillac / lang und schwarz / mit Flossenheck"
Sie merken schon: Das Ganze ist ein Krimi, und deshalb wollen wir nicht mehr verraten. Selbstverständlich kommen im Folgenden auch der Highway Patrol Man, der State Trooper und andere Springsteen-Charaktere zum Einsatz. Spannung liegt in der Luft; schon der beim Lesen enttäuschend banal wirkende Prolog beim Autoverkäufer entwickelt in Elsa-Sophie Jachs Inszenierung eine sogartige Atmosphäre zwischen Crime Story und Western, was auf die teilweise chorisch gesprochenen Textpassagen sowie auf die wunderbare Live-Musikbegleitung von Stella Sommer zurückzuführen sein mag. Die singt nicht nur Springsteen im englischen Original und in deutscher Übersetzung, sondern auch eigene Lyrik, Gordon Lightfoot und andere, und immer schafft sie: eine Atmosphäre aus Melancholie, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit.
Jach inszeniert eine Ballad of Broken Dreams. Selbstverständlich sind weder der Text (der ursprünglich als Hörspiel konzipiert war) noch die Inszenierung in erster Linie ein Sehnsuchtsdrama oder eine Kriminalstory. Sie sind eine Hommage an Bruce Springsteen und nehmen sich vor allem Springsteens Anliegen an, den Blick auf die Kleinen Leute zu lenken, die vom amerikanischen Gesellschaftssystem vergessen werden und ein Leben lang vergeblich dem amerikanischen Traum hinterherlaufen. Höll ist einer der originellsten, aber auch der poetischsten Gegenwartsdramatiker deutscher Sprache. Bei Nebraska ist er sich zwar bezüglich der verschachtelten, manchmal gar rätselhaften Szenefolge treu geblieben, doch ist die sprachliche Komposition deutlich weniger kunstvoll als gewohnt. Lustvoll spielt er mit allen erdenklichen Amerika-Klischees, zitiert Film- und Western-Motive sowie auch einmal Tennessee Williams, der den amerikanischen Traum schon vor mehr als einem halben Jahrhundert als Fake News entlarvte. Er lässt einen durchgeknallten christlichen Prediger zu Wort kommen und verpackt seine Botschaft in einem elegischen, gut gebauten Road Movie mit Motels und Fastfood-Restaurants, tollen Autos, vom Leben gebeutelten Kriminellen und abgehalfterten Western-Bräuten. Neben den Träumen vergisst er auch die Ängste nicht, von denen diese Menschen ihr Leben lang verfolgt werden: Abgehalftert ist auch dieses Amerika, das so erbarmungslos mit den sogenannten Kleinen Leuten umgeht.
Dass Hölls zwar gut gebauter, aber sprachlich doch manchmal enttäuschender Text auf der Bühne dennoch so gut zur Geltung kommt, ist vor allem dem Regieteam zu verdanken, das die Poesie Springsteens („Nebraska“ ist eines der ruhigeren, poetischeren Alben des Rockmusikers) geschickt variiert. Der American Dream ist ein Alptraum, aber Jach inszeniert ihn mit so viel Poesie und großartiger Musik, mit einer so traurig-schönen, sehnsuchtsvollen Melancholie, dass es ein Vergnügen ist, sich 90 Minuten darin zu verlieren.