Übrigens …

Erste Staffel. 20 Jahre Big Brother im Nürnberg/Heidelberg/Mülheim a. d. Ruhr

Vom RTL-Container zum Twitter-Populismus

Erinnern Sie sich noch an Zlatko Trpkovski? Wenn Sie bei der RTL-Show „Big Brother“ zu den Fans der ersten Stunde gehören, wissen Sie, von wem die Rede ist: von dem Mann, der deutschlandweit zum Kultstar aufstieg, weil er nicht wusste, wer Shakespeare war. Sei es die Blödheit der von RTL ausgewählten Kandidaten, sei es die menschenverachtende Haltung des seine Kandidaten dem Gespött der Öffentlichkeit aussetzenden Senders, sei es das Zielen des Senders auf die niederen voyeuristischen Instinkte des Publikums oder sei es, dass die Sendung den Kandidaten tatsächlich die Gelegenheit zu Selbstoptimierung und Aufstieg bot: Auf gleich mehreren Ebenen schien die Zlatko-Story alle Vorurteile gegen die unsägliche Container-Show zu bestätigen. Der Schreiber dieser Zeilen hat es trotz seiner angeborenen Neugier nie fertiggebracht, die Show länger als fünf Minuten einzuschalten. Aber er kennt intelligente Menschen, die an „Big Brother“ ihre Freude hatten. Und Boris Nikitin geht in seiner am Staatstheater Nürnberg uraufgeführten Jubiläums-Show zum 20jährigen Bestehen von „Big Brother“ durchaus vorsichtig mit den oben erwähnten Vorurteilen um. Aber er kommt zu anderen überraschenden Erkenntnissen.

Überflüssig erscheinen die Texteinblendungen, die die Funktionsweise der Show erklären, denn diese dürfte längst auch bei der gegenüber dem Reality TV immun gebliebenen Bevölkerung bekannt sein. Die Enttäuschung für alle Zlatko-Fans sei vorweggenommen: Er kommt gar nicht vor, denn er ist längst vom Publikum aus der Show gewählt worden, als Nikitins scheinbares Remake der RTL-Show einsetzt. Selbstverständlich hat der Autor und Regisseur mehr im Sinn als nur den Transfer einer Leute-Verdummungs-Show ins Staatstheater. Der Reiz seiner Aufführung bestehe unter anderem darin, dass der Regisseur massenkompatibles Trash TV auf Avantgarde-Theater treffen lasse, heißt es. Wohlmeinende Rezensenten schreiben, schon das Bühnenbild, das die Containerwelt in eine kalte Künstlichkeit entrücke, zeige, dass Nikitin kein Remake beabsichtige. Einspruch: Das für Konsumenten der Fernseh-Show verfremdet wirkende Bühnenbild ist der Transformation der Show in die Kunstwelt des Theaters geschuldet. Dort ist einfach nur weniger Platz als in der auf andere Weise künstlichen Fernsehlandschaft. Auf der Bühne steht ein weißer Container, der der alten Schulbaracke meines Gymnasiums ähnelt, die zur Zeit der Babyboomer-Generation in den 1960er Jahren ebenfalls aus Platzmangel errichtet wurde. Auf den Gartenmöbeln vor David Hohmanns Bühnen-Baracke lässt sich chillen, streiten und alltagsphilosophieren sowie das Federvieh füttern, das sich in seiner „kleinen verbarrikadierten Scheiß-Kiste“ in einer ähnlich klaustrophobischen Lage wie die Container-Insassen befindet. Was ansonsten passiert, wird in guter alter Bert-Neumann-Tradition per Kamera aus dem Container auf einen riesigen, über dem Haus platzierten Bildschirm übertragen. Wenn Julia Bartolome als Baracken-Bewohnerin Andrea zur Hausführung lädt, folgen ihr die Kameras in alle Räume inklusive Schlafzimmer, Klo und Bad. Das Big-Brother-Prinzip der permanenten Überwachung und des Mangels an Intimsphäre wird überdeutlich. Bartholome schildert den normalen Tagesablauf - und da sie eine gute Schauspielerin ist, wirkt das spannend wie bei einem Spionage-Roman: Wir sind schließlich bei „Big Brother“. Dennoch führt die Langeweile der Kandidaten immer wieder zu plötzlichen Konfliktausbrüchen.

RTL führt dem Vernehmen nach für seine Kandidatinnen und Kandidaten ein intensives Casting durch. Dabei werden vermutlich weniger die schauspielerischen Fähigkeiten der künftigen Container-Insassen auf den Prüfstand gestellt als vielmehr die quotenträchtigen gruppendynamischen Konfliktpotentiale eingeschätzt. Nikitin arbeitet mit professionellen Schauspielern. Und so sind es denn die Nürnberger Ensemble-Mitglieder, die endlos quasseln, streiten und ihren Lagerkoller ausleben - und zwar mit Original-Texten aus der Ersten Staffel der Sendung, aus anderen Shows und mit Hinzuerfundenem. Das ist so geschickt collagiert, dass die Inszenierung - man schämt sich, es zu sagen - überraschend unterhaltsam ist. Die Banalität der Gespräche wird durch witzige Bemerkungen erträglich gemacht. Manche Kandidaten haben durchaus Mutterwitz, und manchmal lassen die Gedanken der Bewohner sogar eine gewisse Tiefe erkennen; Nikitin setzt dann auf gebrochenes Pathos bei weitgehend flacher Kommunikation. Die Nöte der Bewohner werden ernst genommen; anders als in der RTL-Show wird bei Nikitin niemand denunziert. Überraschenderweise empfindet man mit den Container-Bewohnern, durchleidet mit ihnen die stillen, schlaflosen Nächte, ihre Versuche, den Gemeinschaftsschlafsälen durch Flucht nach Draußen auszuweichen. Einer zielt spielerisch mit einer Waffe in seinen Mund - und beschwert sich, dass keiner guckt. Dass Langeweile zu Suizidgedanken führen kann, wird dennoch nachvollziehbar…

Die Schauspieler tragen Corona-Masken. Tatsächlich leiden auch die Kandidaten an der von RTL verhängten Ausgangssperre; sie klagen über Entmündigung: Aktualität lauert in der banalsten Ecke. Das gebrochene Pathos wird durch poetische, nachdenkliche, pessimistische Texte verstärkt, die vorwiegend, aber nicht nur von George Orwell stammen. Auf der Leinwand schlüpft einer der Container-Bewohner in die Rolle von Winston Smith aus „1984“. Bei Orwell wird die „Hass-Woche“ ausgerufen, im Container laufen die Fernseh-Nachrichten: der Anschlag auf das WTC, Kriegsszenen aus Afghanistan, Bilder von Putin und Schröder, der jungen Noch-lange-nicht-Kanzlerin Angela Merkel. Die Container-Bewohner haben ihre eigenen Konflikte, die sie wichtig nehmen. Sie hängen anonym ein Transparent auf: „Sabrina, halt die Gosch’n“. Doch irgendwie wird man das Gefühl nicht los, als wären auch die Träume der Bewohner nicht mehr gar so banal wie zuvor.

Die Inszenierung nähert sich nun ihrem eigentlichen Kern. Den Bewohnern werden Fragen gestellt, die brisante gesellschaftspolitische Fragestellungen berühren: Würdet ihr (als Soldaten, Polizisten o. ä.) im Dienst töten? - Kann eine Frau den Dienst an der Waffe ausüben? - Man streitet sich, ob die Ursachen genderspezifischer Stärken und Schwächen genetisch oder erziehungsbedingt sind. Dann setzt Yascha Finn Nolting als John zu einer großen, traurigen, rechtspopulistischen Wutrede an. Er, der Arbeitslose, offenbart seine Ängste, seine Verzweiflung, seine Identitätsprobleme. Und er flüchtet sich in identitäres, nationalistisches Gedankengut, das immer lauter, immer wütender, immer erschreckender herausposaunt wird. Differenzierte Gedanken zu all diesen brisanten Konfliktthemen sind den einfachen Menschen im Container nicht abzuverlangen, doch diese bekommen in der Show die Gelegenheit, ihre einfachen Wahrheiten unreflektiert in die Welt zu posaunen. Reality Shows wie „Big Brother“, sagt Nikitin, sind die Vorläufer der heutigen sozialen Netzwerke, in denen eine irreale, inszenierte Realität behauptet und populistische Thesen verbreitet werden. Beide Formate bergen die Gefahr der Stärkung politischer Ränder.

Massenkompatibles Trash TV trifft auf Avantgarde-Theater? Nun ja, mit der Avantgarde ist es nicht so weit her, und Shakespeare muss man auch nicht kennen, um die Aufführung zu goutieren. Für einen „Bühnen-Essay“, wie die Inszenierung bezeichnet wird, hält sich die Aufführung zu lange bei einem unterhaltsamen Quasi-Remake auf. Ob Nikitins These, der Erfolg populistischen Gedankenguts sei zurückzuführen auf eine Entwicklungslinie, die mit dem Reality TV beginnt und bei den sozialen Netzwerken vermutlich noch nicht endet, von allen Zuschauern verstanden wird, sei dahingestellt. Immerhin: Vor zwanzig Jahren betrachteten wir es als menschenverachtend, wie RTL intellektuell beschränkte Menschen dem Gespött der Öffentlichkeit aussetzte, wenn sie sich unkommentiert über Gott und die Welt, die Politik und den Sex ausbreiteten. Heute tut das alle Welt bei Facebook, Instagram und Twitter, und wir haben uns daran gewöhnt. Die Container-Kandidaten als Vorläufer der heutigen „Influencer“ zu bezeichnen, scheint dennoch allzu weit hergeholt. Doch wenn das Bild eines prollig jubelnden Bundeskanzlers Schröder auf dem TV-Screen des Containers erscheint, begreift man: Auch der betrieb Selbstoptimierung mit Hilfe der Fernsehkameras, vielleicht skrupelloser als die Bewohner des Containers.