Was, wenn das Gefühl von Struggle bleibt, obwohl doch alles gut ist
Auf schwarzem Bildschirm erscheint in großen weißen Lettern der Text:
Also.
Anfangen.
Aiaiaiaiai.
Puhhhhhh
Doch vorerst bleibt es minutenlang beim eingeblendeten Text zu monotoner Elektromusik, denn es will nicht kommen, das erste Wort.
„Warum kann es sich, verdammt nochmal, nicht leicht anfühlen, es auszusprechen, das erste Wort?“, erscheint auf dem Bildschirm, während sich hinter die Schrift schemenhaft eine am Boden krauchende Figur schiebt - eine Puppe? Wir erfahren, dass das erste Wort, das Erste, nicht von einer kommen kann, die als Letzte gekommen ist, die „Niemanden und Nichts mehr gebären kann“. „Bin ich das?“ fragt dann endlich wie in Trance die Gestalt am Boden mit menschlicher Stimme, die offensichtlich keine Puppe ist, sich zeitlupenhaft erhebt, sich selbst betastet und betrachtet und dann aus unheimlichen Schlitzaugen aus dem Bild schaut. Ein befremdliches Maskenwesen durch eine glatzköpfige Latexmaske völlig anonymisiert. Wenig später taucht ein Doppel auf, dann noch eine Kopie: alle die gleichen Glatzköpfe, dazu geschmacklose schwarz-beige-geringelte Rippenpullis à la Fünfziger-Jahre-Schick, unter denen sich bei allen dreien deutlich Brüste abzeichnen, wenn auch eine Figur mit männlicher Stimme spricht.
Hin und wieder werden Teile des Bühnenbildes eingeblendet: auch hier spießiges 50er-Jahre Kirschbaum-Design mit grünen Topfpflanzen, die immer wieder besprüht werden. An der Rückwand eine Projektionsfläche, auf der alle Texte, die im Stream direkt eingeblendet werden, für das analoge Publikum im Saal erscheinen.
Wenn die Dreifach-Frau (im Text mit A, B, C bezeichnet) auch immer wieder - mal chorisch, mal solo, - betont, sich die üblichen Narrative zu ihrem Migrantinnen-Sein nicht aufzwingen zu lassen, weil sie „keinen Bock hat auf das Narrativ des goldenen Westens“, so bietet sie doch in nahezu mantrischen Wiederholungen Narrativ-Fetzen an, die sich insgesamt zu einer nicht ganz neuen Geschichte über drei Generationen in zwei Welten fügen:
Da ist zunächst die Großmutter in Polen, bei der sich immer wieder dasselbe Ritual abspielt. Immer wieder erzählt die alte Frau von dem deutschen Soldaten, von der versuchten Vergewaltigung und der angedrohten Erschießung. Immer wieder stellt sie die Frage nach einem Ehemann, einem Ehering, nach Urenkeln (und das sogar auf Polnisch mit vorgeblendeter deutscher Übersetzung). Und immer wieder „glotzt das Scheiß-Marienbild, das Muttermarienbild mit ihrem Kind“ die Besucherin von der Wand an und immer wieder ist sie versucht, sich damit zu rechtfertigen, dass in einem anderen Land ein anderes Frauenbild und andere Sakramente gelten. Dass es ihr nichts ausmacht, die Letztgeborene, die Letzte ihrer Gattung zu sein.
Da sind wir bei dem namenlosen ICH, das brav und klug war, Abitur und Studium mit Bravour schaffte, eine emanzipierte Frau wurde, einen deutschen Pass besitzt, aber - ja immer wieder rutscht die Protagonistin ins ABER: sie verlor ihre Muttersprache, weil die Lehrerin von der Familie verlangte, deutsch zu sprechen (das wird sogar als Dialogszene gegeben), und der schöne, weinrote Pass ist für sie nur „Bullshit, weil das nichts mit Menschen zu tun hat, nichts damit zu tun hat, wie gut du bist oder wie viel du geleistet hast.“ Denn mit diesem Pass reist man ein in ein Land, das „vom Kapitalismus aufgefressen wurde, das sich an den Westen verkauft hat.“ Und auch das Narrativ von der freien Frau will und kann sie „verdammt nochmal“ nicht unterschreiben, weil es der goldene Westen kaputtgemacht hat.
Da bleiben noch die Eltern: sie schufteten für den deutschen Pass, was ihnen Wohlverhalten abverlangte, ansonsten blieben Fließband, Entfremdung und Erschöpfung. Eine Opfergeschichte.
Irgendwann zieht sich die Dreigestalt die Masken vom Kopf. Die drei ICHS steigen aus den farblosen Klamotten, erscheinen in schickem Party-Dress, jeder in eigenem Stil, optisch jetzt wirkungsvoll differenziert, in ihren Rollen jedoch weiterhin auswechselbar. (Famos gespielt von Clara Liepsch, Bill Schindler, Tamara Semzov.)
Gemeinsam steigen sie aus, aus der „migrantisch-authentischen“ Opferstory. Aus der durch permanenten Anpassungsdruck geschürten Unzufriedenheit. Trotzig, stolz und selbstbewusst verlassen sie die degradierenden Worte, finden sie ihre eigene freche Wutsprache, setzen sie als „Waffe“ ein. Als chosen sisters schreien sie in den erkämpften Raum, dass sie „Fotzen sind, und Migrantenfotzen obendrauf, die hier in voller Pracht erscheinen, Fotzen, die Superkräfte haben!“
Im Schlusschor erklären sie sich zur „Göttin der Nacht“ mit eigenen „Göttinnenbildern“ und enden als Skulptur verwoben mit: „Ich bin eine Göttin geworden, ich bin nicht allein.“
Doch dann streifen sie die Latexmasken wieder über, glotzen uns albtraumhaft an - warum das? Sind wir zurück in der Tragödie, wenn auch einer Bastard-Tragödie?
Ewelina Benbenek erzählt diese Geschichte nicht als Agitprop-Theater, nicht als tagesaktuelles Feuilleton, vielmehr verdichtet sie den Gedankenstrom ihrer Figur zu einer kunstvollen, rhythmischen Textfläche ganz eigenen poetischen Stils, der mal wuchtig, derb, fordernd, mal poetisch, reflektierend daherkommt. Das polyphone Ringen der Protagonistin um das Wort, um die eigene Sprache, fußt möglicherweise auch auf autobiographischen Erfahrungen der Autorin, die - heute Literatur- und Kulturwissenschaftlerin - selbst polnische Wurzeln hat. So lässt sie gegen Ende des Stückes ihr dramatisches ICH im Chor sagen, dass da „möglichst viel Biographie… die Biographie eines Migrantenkindes“ in den kämpferischen Text rein muss.
Die überzeugende Kunstform von Text und Darstellung machen es leicht, über inhaltliche Klischees hinwegzusehen.
Die im ersten Teil gespenstige Auswechselbarkeit der Kunstfiguren und der von der Autorin vorgegebene hohe Anteil an einzublendendem Text, bieten dem Filmteam gute Voraussetzungen für einen eindrucksvollen Stream, der zum Abschluss der Mülheimer Theatertage - Stücke 2021 digital ausgestrahlt wird.