Die Wahrheit, die Wahrheit über mich. Ich bin ein Gärtner.
Endlich - von der Pandemie um ein Jahr verschoben - soll das Festival „Theater der Welt“ in Düsseldorf beginnen, doch noch bleiben die Türen des Schauspielhauses verschlossen. Die beachtliche Zuschauermenge tummelt sich erwartungsvoll plaudernd auf dem Gustaf-Gründgens-Platz vorm Haus zwischen der monumentalen Kunstinstallation „The Third Space“ des Architekturkollektivs raumlabor berlin, um dann ganz plötzlich zu verstummen vor der faszinierenden akustischen Freiraum-Soundinstallation „Siren Song“, die alle in einen raumgreifenden Klangkörper hüllt. Das großformatige Klangkunstwerk der australischen Künstler*innen Byron J. Scullin, Thomas Supple und Hannah Fox nutzt modernste Alarmton- und Sicherheitstechnik, um das Festivalzentrum aus vielen Schallquellen rund um den Platz und aus einem über uns kreisenden Hubschrauber in ganz außergewöhnliche Klangwelten zu tauchen.
Nach diesem effektvollem Auftakt erwartet uns im Großen Haus des Theaters eine riesige Leinwand wie in einem modernen Kino, denn anders als vor gut zwei Jahren geplant, kann die Uraufführung der von Lara Foot und der Handspring Puppet Company erarbeiteten Bühnenadaption des vielfach preisgekrönten Romans Leben und Zeit des Michael K. von J. M. Coetzee pandemiebedingt nicht in einer Koproduktion der Kapstädter Künstler mit dem Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses stattfinden. So wird zur Festivaleröffnung das Live-Streaming der Uraufführung auf der Bühne des Baxter Theatre Centers in Kapstadt (allerdings dort wegen der hohen Inzidenzen ohne Publikum) vor hiesigem Publikum gezeigt.
Eindrucksvoll vor karger südafrikanischer Kulisse erscheinen nacheinander neun gebeugte Gestalten in Grau (darunter Markus Schabbing als Vertreter des Düsseldorfer Ensembles) zu ernst-monotoner Musik. Einer trägt ein in leuchtend rotes Tuch eingeschlagenes Bündel, um das sich die Gruppe mit langsamen Bewegungen schart. Mit beinahe rituellem Ernst wird das Tuch zurückgeschlagen und gekrümmt wie ein Embryo erscheint die hölzerne Figur einer Puppe, die behutsam aufgerichtet und von drei Schauspielern übernommen wird, denen sie etwa bis an die Schultern reicht. Im ernsten holzgeschnitzten Gesicht erkennen wir die beschädigte Oberlippe, die Hasenscharte, die den Jungen, Michael K., zum Gezeichneten, zum Ausgestoßenen macht.
Ganz nahe am Romantext wird die Geschichte des jungen Mannes seit seiner Geburt erzählt. Die Mutter, Anna K., erscheint gleichfalls als hölzerne Puppe - griesgrämig zerfurcht schon als Gebärende - und schreckt zurück, als sie die Missgestalt des Kindes sieht. „Es schauderte sie bei dem Gedanken an das, was da all die Monate in ihr gewachsen war“. Sie fütterte das Kind mit einem Löffel, da es nicht saugen konnte, ein Motiv, das im letzten Bild der Inszenierung wieder aufgenommen wird.
Für Michael K. beginnt damit der unverschuldete Leidensweg. Verstoßen und gemoppt, ins Kinderheim abgeschoben und in Kriegswirren eines verheerenden, gesetzlosen Bürgerkrieges von allen Seiten willkürlich verdächtigt und verfolgt, eingesperrt und wieder entkommen, hört er nicht auf, nach der eigenen Identität zu suchen und seine ureigenste Natur und Authentizität, seine Wahrheit einzufordern.
Zunächst glaubt er seine Bestimmung als Gärtner in einer städtischen Gärtnerei gefunden zu haben, doch als die Mutter schwer erkrankt, gibt er seinen Job auf, kümmert sich um sie. Da sie sicher ist, nur auf dem Bauernhof ihrer Jugend gesunden zu können, bastelt er eine fragile Karre, setzt sie hinein und bricht mit ihr auf in das Land ihrer Träume, das er auch zu seinem eigenen Utopia werden lässt. Als sie unterwegs stirbt, hält er unbeirrt an seinem Plan fest: statt ihrer, wird er ihre Asche auf die Farm bringen. Für kurze Zeit scheint sich sein Traum vom gärtnernden Landleben zu erfüllen. In einer eindrucksvollen Szene um einen riesigen Kürbiskopf fasst die Aufführung das Motiv der Kürbisfrucht, das sich durch den ganzen Roman zieht, zusammen: Den Kürbis, manchen indigenen Völkern eine heilige Frucht, baut Michael K. als erstes an, trägt später durch alle Wirren Kürbiskerne in einem Säckchen mit sich, kämpft um sie, sieht sie als Hoffnungszeichen eines möglichen, selbstbestimmten Gärtnerlebens in einer erträumten Zukunft, entschlossen irgendwann „die Wüste mit Kürbisblumen zum Blühen zu bringen“.
Den Teil des Romans, in dem ein Lagerarzt um das Leben, oder besser um das Verstehen seines verhungernden Patienten ringt, da Michael K. jegliche Lager-Kost und jegliches Gespräch verweigert, fasst die Aufführung in der nackten Puppenfigur zusammen, deren Körper nur noch ein Bündel aus zusammengeflochtenen Rattan- und Peddingrohr-Stängeln ist.
Noch einmal gelingt ihm halbtot die Flucht, findet bei einem alten Mann Nächstenliebeund Nahrung, die er vom Löffel des Fremden annimmt und dabei von einer Rückkehr zur Farm träumt, wo er den Brunnenschacht von Geröll befreien wird. Er sieht sich einen „Löffel tief hinunterlassen in die Erde, und wenn er ihn wieder heraufzöge, würde Wasser sein in dem Löffel; und so, würde er sagen, kann man leben.“ Denn „die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, außerhalb der Lager zu sein, außerhalb aller Lager zugleich.“ Und dabei wagte er „unbekümmert die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit, die Wahrheit über mich. Ich bin ein Gärtner“.
Wie das alles mit einer hölzernen Puppe?
Nein, da spielen nicht nur die wundervollen, kunstvoll geschnitzten Puppen; Puppen, deren eindrucksvolle Gesichter sich zu verändern scheinen, in denen man Mienenspiel vermuten möchte, deren Glieder jedes Gefühl auszudrücken vermögen, nein da spielen auch noch virtuose Schauspieler um die Puppen herum und mit ihnen. So bittet die Michael-Puppe etwa, als ihr ein Stück Brot angeboten wird, die „Mitspieler“ für sie zu essen. Und alle beißen genussvoll zu. Wer ist da wer? Das sind nicht Puppeteers, die hinter ihrer Figur zurücktreten, das sind Aspekte ihrer Figur, die sie mal ausdifferenzieren, mal kommentieren. Was die „Handspring Company“ da auf die Bühne (wenn auch in Düsseldorf nur auf die Leinwand) bringt, ist ein kunstvolles Zusammenspiel von Puppen- und Schauspiel. Die Unbeirrbarkeit des Michael K., sein Anders-Sein und zugleich sein Vertrauen in die eigene Wahrheit könnten nicht stärker Ausdruck finden als in der Unverletzlichkeit des Puppengesichtes.
Zweimal allerdings verzichtet die Regisseurin Lara Foot auf die Darsteller-Gruppe, zweimal fasst sie eindringliche Romantexte zu ergreifenden Monologen zusammen und lässt sie von nur einem Schauspieler, allein auf der Bühne, sprechen. Einmal nur als schattenhafte Rückenansicht eines im Dämmerlicht verschwindenden Mannes, einmal in voller Ausdruckskraft. Kraftvoller Ausdruck der Isolation und Einsamkeit des Michael K. (Die Schattenszene ist zugleich ein eindringliches Beispiel für die Einbindung des Filmmoments in die Bühnen-Inszenierung.)
Lara Foot, Regisseurin und Autorin (übrigens in Zusammenarbeit mit dem Romanautor Coetzee) schafft eine eindrucksvolle Romanadaption, die ihre menschliche wie poetische Intensität auch im Streaming nicht einbüßt.
Ergriffen und voll Anerkennung applaudiert das Düsseldorfer Publikum den live Spielenden in Kapstadt.
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Aufgrund der Vielzahl der an der Produktion Beteiligten folgt hier im Anschluss eine Übersicht:
Regie und Textbearbeitung:
Lara Foot
Puppen:
Adrian Kohler, Basil J.R. Jones
Leitung Puppen und Konzeption:
Adrian Kohler, Handspring Puppet Company
Komposition:
Kyle Shepherd
Bühne:
Patrick Curtis
Kostüm:
Phyllis Midlane
Licht:
Joshua Cutts
Sounddesign:
Simon Kohler
Soundsystem:
David Claassen
Video:
Kirsti Cummings
Dramaturgie:
Felicitas Zürcher (Düsseldorfer Schauspielhaus)
Projektion:
Yoav Dagan
Kamera (Film), Foto:
Fiona McPherson
Kamera:
Barrett De Kock
Produktionsleitung:
Marisa Steenkamp
Stage Manager:
Puleng Mabuya
Produktionsleitung (Baxter Theatre):
Libie Nel
Regieassistenz:
Kenan Fortuin, Nosibusiso (Queen) Jacob
Ton:
Eastern Acoustics
Bühnenmalerei / Tontechnik:
Yolandi van Jaarsveldt
Kamerassistenz:
Rebecca Newton
Bühnenbild:
Christopher Spogter, Wayne Jacobs
Verfolger:
Xola Mntanywa, Shimaya Mgodleni