Fünf gelöschte Nachrichten im Schauspiel Essen

Die Leiden des jungen Faust im Lockdown

Faust steht in Feinripp-Unterwäsche vor seinem Publikum: „Ich bin Faust, bin Übermensch, bin Gottes Ebenbild.“ Dennis Bodenbinder spielt den Schauspieler K, der bei der bevorstehenden Goethe-Premiere die Titelrolle spielen soll. Bis vor kurzem war sein Selbstbewusstsein noch in Ordnung; seinen Text hat er gelernt, mit ein paar kleinen, aber nicht unwichtigen Abweichungen. Er hat nun, ach! viel zu viel Juristerei, Medizin und Theologie studiert, doch helfen die Schulweisheiten nicht mehr – K nicht, Faust nicht, und den Juristen und Medizinern auch nicht, die vor ganz neuen Herausforderungen stehen. Die Corona-Krise ist über die Welt hineingebrochen. Längst ist die Premiere abgesagt, und K erkennt: „Die Welt ist zu komplex geworden für mich.“ Da steht er nun, der arme Tor…

Ausstatterin Marlene Lücker hat ihrem Faust-Schauspieler in der Casa des Schauspiels Essen eine beziehungsreiche Ein-Zimmer-Wohnung eingerichtet. Rechts ist sein Studierzimmer, links ein uraltes Doppelstockbett. Die Schlafecke ähnelt eher einer Krankenzelle in einem vorsintflutlichen Klinikbetrieb: Kichert da Corona aus den Kissen? Verbunden werden die beiden im pandemischen Lockdown übrig gebliebenen Lebenswelten von einem riesigen amerikanischen Kühlschrank, der nach längerem Lockdown zum Zentrum von K’s heruntergedimmten Aktivitäten wird. Viel mehr als Magerquark und Gurke findet er darin nicht, doch die lassen sich ganz nach Faust’scher Tradition prima zu einem Elixier für die Verjüngung der Haut verarbeiten. Spannender als Bücher, Bett und Bauknecht muten den Zuschauer die Fotos und Plakate an, die K’s Wände dekorieren: Plakate vom Gründgens-Faust, von Bulgakows Meister und Margarita, vom jungen Werther, ein Foto von Samuel Beckett, ein Nachdruck von Tischbeins „Goethe in der Campagna“. Selbstverständlich darf in der Wohnung eines Mannes mit dem Namen K auch ein Plakat von Kafkas Der Prozess nicht fehlen. Und dessen Autor hat K’s Lage auf den Punkt gebracht: Die Logik der Corona-Verordnungen ist unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.Kafkaesk kommt K das neue Leben unter Pandemiebedingungen vor, absurd und unerklärlich wie bei Beckett. Seine Beziehung zu Frauen wird im Verlauf der nächsten 75 Minuten respektive im Verlauf von Ausgangssperre und Lockdown auch keinen glücklicheren Verlauf nehmen als bei Werther, kannte K doch bislang nur Sex statt Liebe. Der idealisierte Goethe in der Campagna wiederum mag Traum und Alptraum gleichzeitig versinnbildlichen: An Reisen ist nicht zu denken, an Einsamkeit umso mehr.

Falk Richter hat mit seinem bereits beim letztjährigen Kunstfest Weimar uraufgeführten Monolog Five Deleted Messages die Innenansicht eines Menschen gezeichnet, der mit den durch die Corona-Pandemie erzwungenen massiven Veränderungen des eigenen Lebensstils vollkommen überfordert ist. Gleichzeitig wirft er einen Blick auf die übrigen krisenhaften Situationen, denen sich die Gesellschaft gegenübersieht: auf die Klimakrise zuvörderst, auf die Krise des Kapitalismus (für Richter eher die durch den Kapitalismus ausgelösten sozialen Missstände), auf die Massentierhaltung als Virusbeschleuniger, auf mögliche Freiheitseinschränkungen durch den Staat. In einem Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur aus Anlass der Uraufführung hat Richter prognostiziert, die vom Staat alternativlos verlangten Einschränkungen der persönlichen Freiheit könne man als Übungsfall für die Zukunft betrachten. In 20, 30 Jahren werde man für die Bewältigung der Klimakrise zu ähnlichen, wenn nicht härteren Mitteln greifen müssen.

Der abrupte Eingriff in den Lebensrhythmus, den solche Einschränkungen mit sich bringen, löst auch auf der Ebene des Individuums jede Menge existenzieller Krisen aus. Und so beginnt die Aufführung mit einem panikartigen Monolog eines offenbar an Verfolgungswahn leidenden verhinderten Darstellers eines verhinderten Universalgelehrten. Er thematisiert die Befürchtung, dass die Freiheitsbeschränkungen ein künftig regelmäßig angewandtes Mittel zur Machtausübung durch den Staat werden könnten. Bereits beim Einlass waren TV-Berichte von Demonstrationen der Corona-Leugner zu hören (und von den seitlichen Plätzen auch zu sehen) gewesen. Auch bei Kafka denkt sich K, die Lüge werde zur Weltordnung gemacht, aber Richters K ist zu intelligent, um es bei unterkomplexem populistischem Getöse zu belassen. Den Gedanken, dass die Krise dazu genutzt werde, eine der Staatsmacht genehme Steuerung von Staat und Bevölkerung über die Verordnung von Sicherheitsmaßnahmen und die Allokation von Finanzhilfen zu implementieren, muss man nicht teilen, aber völlig abwegig ist er auch nicht.

Panik ist kein guter Ratgeber. K versucht in der Krise zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Doch weder die Angebote der Corona-Leugner noch die beschwichtigenden Mahnungen der über den Bildschirm flimmernden Bundeskanzlerin helfen K auf die Beine. Die Welt der Alice in Wonderland lenkt ihn nicht ab und gibt ihm keinen Schlüssel zur Krisenbewältigung, die ehemaligen Bettgefährtinnen reagieren befremdet auf seine verworrenen, dem Irrsinn nahe scheinenden Versuche zur Reanimierung alter Kontakte – es herrscht Kontaktsperre, Alter! Vielleicht, reflektiert K, sei es gerade der Versuch zu verstehen, was in der Krise passiert, der einen irre mache: „Es fühlt sich an wie ein langsames, qualvolles Ertrinken.“ – Doch auch die Chancen einer solchen Krise werden im ruhigeren, intensiver wirkenden Schlussteil der Inszenierung angesprochen: die Möglichkeit zur Reflexion und Umkehr, die Möglichkeit zur Intensivierung von Beziehungen, zum Aufbau zwischenmenschlicher Empathie. Wenn nur nicht alles zu spät ist…

Damian Popp, ein Regie-Student an der Folkwang Universität der Künste, hat mit Fünf gelöschte Nachrichten eine gekonnte Abschluss-Inszenierung hingelegt, und Dennis Bodenbender füllt sie mit variablem, expressivem Spiel. Er gibt den K manchmal trashig, manchmal albern überzogen, dann aber auch wieder nachdenklich – und er beherrscht alle Schattierungen der Verzweiflung. Der düstere Gedankenstrom ist nicht ohne Anflüge von Humor inszeniert, aber eines wird klar: Auch wir Übermenschen und Gottes Ebenbilder stehen auf ganz schön wackligen Beinen, wenn die Natur erstmal ernst macht im Kampf gegen die Menschheit.