Hundert Minuten Tourette-Toleranz
Der Theatersaal ist hell erleuchtet und bleibt es auch. Vorne ein opulenter Bühnenaufbau aus weißen Plastikteilen, die an Eisschollen erinnern. Obendrauf ein effektvoller Designer-Sessel in knalligem Orange. Schon beim Einlass ist der Raum erfüllt von poppiger Klaviermusik, die live eingespielt und elektronisch verstärkt wird. Am Flügel Barbara Morgenstern. Sie wird die Aufführung mit eigenen Kompositionen begleiten, für jeden der Darsteller einen persönlichen Popsong präsentieren und auch immer mal wieder ins Geschehen eingreifen oder sich direkt ans Publikum wenden.
Wer genau hinhört, vernimmt schon bald seltsames Grunzen, Räuspern, Schnalzen zwischen den Tönen. Doch wer heute im Theatersaal sitzt, wundert sich nicht. Man weiß, worum es geht: Das Tourette-Syndrom. Helgard Haug vom Rimini Protokoll holt bei ihrer Inszenierung Menschen mit dieser Nervenkrankheit als „Experten des Alltags“ auf die Bühne. In achtundzwanzig Szenen, die oben auf einem Riesenmaßband mitgezählt werden, berichten drei betroffene Männer über ihr Leben mit diesem Handicap, von ihrem Leben mitten in der Gesellschaft, im Beruf, in der Nachbarschaft, in der Familie. Obwohl der Abend eine klare, wiederholbare Struktur hat, ist durch die Variationen, die sich durch die Tics (so der Fachausdruck) in Text und Bewegung ergeben, „jeder Abend eine Uraufführung“, wie Benjamin Jürgens, der als erster auftritt, dem Publikum erklärt. Überhaupt wenden sich die Protagonisten fast ausschließlich direkt ans Publikum, das auch durch häufigen Szenenapplaus und viele Lacher (manchmal zu viele!) unmittelbar reagiert. Allerdings wird auch auf der Bühne mitgelacht: die Komik mancher unkontrollierter Wort- und Satzfetzen oder irritierender Geräusche wirkt kurios für alle.
Während in riesigen Lettern einige der verbalen Tics wie „arschgeile Maus“, „Heil Hitler der Nutte“ und anderer Nonsens über die gesamte Bühne laufen, hören wir von hinten aus dem Publikum Benjamin Jürgens, der humorvoll von seinem misslungenen Theaterbesuch erzählt, den seine Frau ihm zum Geburtstag schenkte. Schon die Bahnfahrt war schwierig, da er empfindlich auf Gedränge reagiert. Dann konnte er während eines Monologs auf der Bühne trotz größter Konzentration den Zwischenruf „Alles Blödsinn!“ nicht unterdrücken und brachte so den Schauspieler aus dem Konzept. Seine Tics, Kopfzucken, Klicktöne und Räuspern störten den Bericht nicht, man hörte auf den Inhalt, alles wurde frei und verschmitzt vorgetragen. Später erfuhren wir, dass er als Altenpfleger arbeitet und seine Schützlinge kein Problem mit seinen Sonderheiten haben.
Alle drei Experten berichteten von Bedingungen, die sie an ihren Auftritt knüpften. So verlangte Jürgens „schwarze Ledersofas im Bauhausstil“ auf der Bühne, was offensichtlich „nicht geklappt hat“. Für sein „Just-Right-Gefühl“ reklamiert er nun mehr Ordnung auf der Bühne und verlangt, die Lücken zwischen den Einzelteilen zu schließen. Und siehe da: wie ein Puzzle passen sie ineinander und das Just-Right-Gefühl ist befriedigt. Zur Beruhigung raucht er Cannabis-Zigarillos. Nur als Medizin.
Inzwischen kommt Christian Hempel auf die Bühne geradelt. Er liest seinen Vorstellungstext weitgehend ab, hat dabei aber fast keinerlei Tics. Während er später, während die anderen performen, mit heftigen verbalen Tics dazwischengeht. Serienmäßig wiederholt er das titelgebende „Arschloch“, dazu schütteln ihn weitausgreifende motorische Tics. Er berichtet, dass seine Kollegen Schwierigkeiten mit seiner Krankheit haben, er daher als Mediengestalter im Home-Office arbeitet, seine Tochter aber gut damit zurechtkommt. Wegen seiner „Verbal-Attacken“ drohte ihm ein Nachbar mit juristischen Schritten und auf die Erklärung, dass das nicht steuerbare Krankheitssymptome seien, drohte er gar mit dem Jugendamt. Mit der Ankündigung „Keine Absicht, nur Tourette!“, versucht er - nicht immer erfolgreich - Missverständnisse abzuwehren.
Für die letzten Szenen taucht noch Bijan Kaffenberg auf, der per Direktmandat in den Hessischen Landtag gewählt wurde und nun auf der Bühne seine Antrittsrede wiederholt und danach ein paar Witze über Politik als Tourette-Syndrom zum Besten gibt.
Zum Abschluss drehen alle drei unter großem Applaus einige Runden mit dem Fahrrad um den Bühnenaufbau.
Am Ende bleibt natürlich die Frage: was war Tourette, was war Gag? Ganz sicher war der Einschub mit dem Pizzabäcker reines Spiel, dessen Bezug zum Thema sich mir allerdings nicht erschließt: da wurde den Zuschauern von Christian Hempel angeboten, eine Pizza zu ordern. Ein junger Mann wählte eine mit Salami, Schinken und doppeltem Käse, die dann auch tatsächlich irgendwann gebracht wurde.
Eine gewisse Verunsicherung wurde ganz bewusst von den Experten geweckt, wenn sie zwischendurch behaupteten: „Wir alle gaukeln Touretto-Toleranz nur vor!“ Und in einem Rollenspiel die Musikerin entscheiden ließen, was Tic und was Fake sei.
Es gibt Sinn, im Theater - auch im Dokumentar-Theater - das Spannungsfeld aufrechtzuerhalten zwischen Realität und Fiktion, zwischen Inszenierung und Improvisation, zwischen Theater und Theatralität des Alltags. „Draußen bin ich eine Störung, hier werde ich zur Attraktion“, bemerkt Christian Hempel im Stück und denkt hoffentlich dabei nicht an die Zurschaustellung von Fremdem in Varietees vor Zeiten.
Diese drei Menschen haben nicht nur Toleranz eingefordert, sie haben mit hoher Sensibilität und Kreativität uns Einblick gewährt in ihr Leben.