Übrigens …

Im Process im Düsseldorf, Berger Kirche

40 Jahre nach dem Düsseldorfer Majdanek-Prozess

In einem hübschen Innenhof, versteckt in einer kleinen Gasse der Düsseldorfer Altstadt, liegt die Berger Kirche, die im Jahre 1687 geweihte erste Lutherische Kirche Düsseldorfs. Auf dem Außengelände hat das Psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge nach einem Entwurf der Künstlerin Anne Mommertz einen Trauerort Menschen aller Kulturen und Religionen - insbesondere Geflüchtete - geschaffen, die derzeit die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen nicht besuchen können. Es ist ein Ort der Ruhe und der Toleranz, durch Mauern und Bäume geschützt vor dem Lärm und Trubel der längsten Theke der Welt.

Unweit der Kirche liegt - ebenfalls in der Düsseldorfer Altstadt - die Mühlenstraße, in der sich bis zum Jahre 2010 das Landgericht befand. Dort wurde am 30. Juni 1981 das Urteil im dritten Majdanek-Prozess gesprochen, in dem 15 Aufseher und Wächter des Vernichtungslagers Majdanek des zweihundertfünfzigtausendfachen Mordes respektive der Beihilfe zum Mord angeklagt waren. Der Prozess war mit der Anhörung von circa 350 Zeugen aus allen Teilen der Welt und einer Gesamtdauer von mehr als fünfeinhalb Jahren der längste und aufwändigste der bundesdeutschen Rechtsgeschichte. Ruhe und Toleranz herrschten in diesem Prozess nicht: Einige Verteidiger waren der ultrarechten politischen Szene zuzurechnen; Störmanöver und Einflussnahmen rechter Sympathisanten blieben nicht aus. Von Lügenpresse und Fake News war schon damals die üble Nachrede, auch wenn man diese Begriffe noch nicht kannte. Exakt 40 Jahre nach der Urteilsverkündung hat das Theaterkollektiv Pièrre.Vers unter Leitung von Christof Seeger-Zurmühlen in der Berger Kirche eine erschütternde Aufführung zur Premiere gebracht, die sich vor allem auf Berichte des Prozessbeobachters Heiner Lichtenstein, Protokolle des Staatsanwalts Dieter Ambach und Szenen aus dem Dokumentarfilm „Der Prozess“ von Eberhard Fechner (1984) stützt.

Im Altarraum der Kirche tagt hinter einer coronakonformen Plexiglasscheibe das Gericht. Anna Magdalena Beetz gibt den souveränen, unbestechlichen, aber gelegentlich durchaus Empathie erkennen lassenden Vorsitzenden Richter Günter Bogen. Manchmal wecken seine Entscheidungen Unverständnis - vor allem wenn er noch die abstrusesten Anträge der Verteidigung entgegennimmt und erst nach einer Beratungs-Unterbrechung zurückweist. Im In- und Ausland wurde die Dauer des Verfahrens kritisiert, aber wir begreifen: Genau diese unaufgeregte, unbestechliche und verantwortungsvolle Prozessführung ist es, die im krassen Gegensatz zum Vorgehen der Justiz in Diktaturen oder Autokratien steht und die die Qualität der bundesdeutschen Gerichtswesens ausmacht. Verteidiger dagegen müssen zwangsläufig parteiisch sein. Aber was der in der Textfassung von Juliane Hendes einzige übriggebliebene Winkeladvokat Ludwig Bock abliefert, ist empörend - und wird zur Glanznummer für den jungen Schauspieler Paul Jumin Hoffmann. Hoffmanns Spiel macht schaudern: Er zeichnet den Anwalt als selbstzufriedene, zynische, impertinente und manipulative Inkarnation des Bösen. Dabei muss er nicht einmal zur Fratze greifen oder seine Stimme über Gebühr erheben - Hoffmanns mephistophelisches Spiel entbehrt sogar nicht einer gewissen Eleganz. Der reale Anwalt Bock hatte einst auf der Liste der NPD für die Bundestagswahl 1970 kandidiert und war in jungen Jahren Vorstandsmitglied des Nationaldemokratischen Hochschulbundes. Seine rechte Gesinnung ist also dokumentiert. Die Aussage des als Sachverständiger auftretenden Historikers Wolfgang Scheffler, die Judenvernichtung sei eines der politischen Ziele des Nationalsozialismus gewesen, bezeichnet er als reine Spekulation. Der größte Skandal des Prozesses wird auch zu einem emotionalen Höhepunkt der Aufführung: Als die Zeugin Henryka Ostrowska (gespielt von Gosia Konieczna) - zitternd angesichts der wieder wach werdenden Erinnerungen - berichtet, sie habe im Lager gelegentlich Blechdosen mit dem Giftgas Zyklon B zu den Gaskammern bringen müssen, springt Hoffmann empört auf: Anwalt Bock beantragt die Festnahme der Zeugin wegen des dringenden Verdachts zur Beihilfe zum Massenmord. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück…

Die Anklagebank ist in Seeger-Zurmühlens Aufführung stellvertretend mit vier Personen besetzt. Die Schauspieler schlüpfen gleichzeitig auch in die Rollen verschiedener Zeugen. Gruselig wird es, wenn Krzysztof Leszczynski als ehemaliger SS-Hauptsturmführer Hackmann immer wieder sein Unverständnis über die Anklage in Worte kleidet. Zynisch wirkt er, starrsinnig - und doch auch weich und glaubhaft. Die Angeklagten glaubten wahrscheinlich gar, was sie da sagten, wirft Richter Bogen einmal ein - na klar, 30 Jahre lang haben sie bis zur Eröffnung des Prozesses wieder in Frieden gelebt und ehrenhafte Berufe ausgeübt. Soll man sie deshalb straflos davonkommen lassen? Soll man, wie manche Prozessbeobachter fordern, die Vergangenheit ruhen lassen und nicht alte Wunden (und Sünden) wieder aufrühren? - Die Welt müsse wissen, dass es kein Verbrechen ohne Strafe gebe, fordert der Staatsanwalt (Jonathan Schimmer). Im 21. Jahrhundert kann man trefflich über die Sinnhaftigkeit einer Anklage gegen 95-jährige gebrechliche Handlager der Mordmaschinerie streiten, aber damals, 1975 bis 1981?

Julia Dillmann gibt die Angeklagte Hildegard Lächert, die „blutige Brygida“, wie sie von den KZ-Insassen genannt wurde, weil sie Häftlinge mit einer mit Eisenkugeln beschlagenen Peitsche schlug und angeblich einen Hund auf eine schwangere Gefangene hetzte, der sie zerfleischte. Sie habe nichts mehr in Erinnerung außer dem herrlichen Lublin, in das man gelegentlich zum Kaffeetrinken fuhr, sagt Dillmann - und zuckt doch merklich zusammen, als einer der Angeklagten der entsetzte Erkennensschrei entfährt: „Die blutige Brigitta…!“ - Alexander Steindorf ist der Angeklagte Emil Laurich. Er zögert, als er nach seinen Erinnerungen gefragt wird, erscheint erschüttert - und sagt dann: „Das war am nächsten Tag vergessen.“ - Dennoch glaubt man, ihm eine gewisse Traumatisierung anzuspüren, möglicherweise resultierend aus jahrzehntelanger Verdrängung. Ausgerechnet Alexander Steindorf, der die ambivalente Figur des Laurich spielt, tritt auch in der Rolle des Zeugen Busch auf, dessen Wahlspruch noch 30 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft lautet: „Meine Ehre - meine Treue“. Es ist, unwesentlich abgewandelt, der Wahlspruch der SS.

Tatsächlich gelingt es Julia Dillmann, Gosia Konieczna, Krzysztof Leszczynski und Alexander Steindorf nicht nur, den vier Angeklagten jeweils ganz eigenständige, voneinander unterscheidbare Profile zu geben, sondern sie verleihen auch den Zeugen, die sie in anderen Szenen verkörpern, in ihren Kürzestauftritten mit Gesten, Sprache und Körperhaltung unverwechselbare Charakterzüge. Die Zeugenaussagen, in denen unsägliche Gräuel und sadistische Schikanierungen zur Sprache kommen, sind die intensivsten, bedrückendsten Momente der Aufführung. In der Berger Kirche wird es dann mucksmäuschenstill. Die herausragende schauspielerische Leistung des gesamten Teams spricht für die individuelle Klasse der einzelnen Akteure, aber auch für die sensible Schauspielerführung des Regisseurs. Der manchmal dramatische, aber nie dominante experimentelle Soundtrack von Bojan Vuletic verleiht der Aufführung zusätzliche Spannung.

Richter Bogen hatte seinerzeit Düsseldorfer Jugendliche eingeladen, dem Prozess im Gerichtssaal beizuwohnen. Pablo Vuletic übernimmt stellvertretend die Rolle der Schüler und berichtet von seinen Eindrücken und Gedanken - auch von seiner Enttäuschung darüber, dass die meisten seiner Schulkameraden das Thema des Nationalsozialismus kaum noch interessiert. Er selbst ist entsetzt: Angeklagt im (immerhin dritten) Düsseldorfer Majdanek-Prozess sind „15 von 86.000 – was für eine Quote!“ – Ja, es waren diejenigen unter den Mordgehilfen im Vernichtungslager, deren man noch habhaft werden konnte. Manche waren in früheren Prozessen verurteilt worden oder hatten sich der Gerichtsbarkeit durch Suizid entzogen. Andere waren von den Nationalsozialisten in den letzten Kriegstagen zwecks Zeugenbeseitigung erschossen worden. Die meisten sind davongekommen. Kein Verbrechen ohne Strafe? Nun, das ist wohl eine Wunschvorstellung.

Am Ende wurde nur eine der 15 Angeklagten zu lebenslänglicher Haft verurteilt; 13 erhielten Haftstrafen zwischen 3,5 und 12 Jahren und einer wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die milden Urteile empörten, doch die Mühen des Gerichts bei der Abwägung von Recht und Gerechtigkeit werden in der Inszenierung nicht verschwiegen. Anna Magdalena Beetz gehört in der Aufführung das Schlusswort: nachdenklich, aufrüttelnd, fragend – aber mit dem Wissen, dass verantwortungsbewusste Rechtsprechung und subjektives Gerechtigkeitsgefühl nicht immer in Übereinstimmung zu bringen sind. Auch das Schlusswort von Krzysztof Leszczynski als Angeklagtem Hackmann macht nachdenklich: "Ich bin kein Nazi. Ich war kein Nazi. Ich werde nie einer sein. Ich war Soldat. Und das ärgert mich."

So war das wohl damals, als Pflichterfüllung über Moral ging. Die Erinnerung daran ist noch heute unerträglich. Doch: Wäre es heute so viel anders?