Übrigens …

Pistes im Schauspielhaus Düsseldorf

Klagelied des gerösteten Sandes

Pisten“. Abseits der zwei oder drei großen internationalen Überlandstrecken sind die Straßen Namibias Pisten, gut befahrbare Sand- oder Schotterstrecken durch eine grandiose Landschaft, auf denen man manchmal 100 Kilometer lang keinem einzigen Fahrzeug begegnet. Wer die Einsamkeit liebt, den nimmt der Zauber dieses wunderbaren Landes schnell gefangen. Penda Diouf, einer französischen Dramatikerin und Schauspielerin mit senegalesisch-ivorischen Wurzeln, ging es nicht anders. Doch ihr oft lyrischer Text ist nicht schwelgerisch, sondern ein Klagelied. Die „Pistes“ haben in ihrem beim Festival Theater der Welt in Düsseldorf gezeigten Stück eine doppelte Bedeutung: Sie bezeichnen die Spuren, die in die Geschichte dieses Landes weisen. Und die war alles andere als zauberhaft.

Penda Diouf war 29, als sie erstmals - und allein - nach Namibia reiste. Sehnsüchte spielten eine Rolle, Sehnsüchte nach den höchsten Sanddünen der Welt und eine schon in der Kindheit erwachte Faszination für Frankie Fredericks, den aus den Townships von Windhoek stammenden 200-m-Weltmeister und mehrfachen Gewinner olympischer Silbermedaillen. Penda war 12, als Frankie sich 1993 in Stuttgart zum Weltmeister krönte, und sie war und blieb beeindruckt von der Souveränität des Auftretens dieses bis heute einzigen namibischen Olympia-Medaillengewinners, von der gelassenen, aber nicht arroganten Ausstrahlung und der Selbstverständlichkeit, mit der der Gentleman der Leichtathletik die amerikanische Konkurrenz in die Tasche steckte. Er, ein Afrikaner! - Fredericks wurde zum Idol der jungen Französin, die aufgrund ihrer Abstammung bislang vor allem Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen gemacht hatte. Sich auf Augenhöhe mit den großen Amerikanern und Europäern zu bewegen, scheint für Afrikaner bis heute fast ausschließlich im Sport möglich zu sein.

Diouf würde jetzt intervenieren. Mit welchem Recht sprechen wir von Afrikanern? In Europa differenzieren wir zwischen Angehörigen von 47 verschiedenen Nationen - und die 54 Staaten Afrikas werfen wir in einen Topf? Hand aufs Herz: Zumindest für Subsaharan Africa unterläuft uns diese Ungeheuerlichkeit regelmäßig, trotz des um das Dreifache größeren Territoriums des Kontinents und eklatanter kultureller, politischer und wirtschaftlicher Unterschiede zwischen seinen Staaten. Augenhöhe ist im Denken und Handeln der Europäer längst nicht hergestellt. Und so sind es Ängste, die Penda Diouf begleiten auf ihrer Reise in ein fernes Land, die Angst, sich als junge weibliche Person of Colour allein in einem Land zu bewegen, das, wie sie schon im Flugzeug registriert, vor allem von deutschen Rentnern aufgesucht wird, die ihre ehemalige Kolonie besuchen. Mut wird ihr von den Namibiern immer wieder bescheinigt, und tatsächlich ist Pistes auch ein Stück über Mut - den Mut, sich einer historischen Vergangenheit zu stellen, in der die Volksstämme, denen das Land gehörte, von deutschen Kolonialherren auf grausamste Art und Weise fast ausgerottet worden wären.

Eine moderne junge Frau in Jeans und T-Shirt betritt die Bühne und zieht einen roten Rollkoffer hinter sich her, der das einzige Requisit während ihres 75minütigen Monologs bleiben wird. Nanyadji Kagara, eine im Tschad geborene Schauspielerin, Tänzerin und Fotografin, die in Poitiers und Bordeaux studiert hat, schlüpft in die Rolle der Penda Diouf.

Wann hat die Reise begonnen?“ fragt sie wieder und wieder, denn sie weiß: Anlass für die Reise ist weder die Faszination für die Landschaft und die Tierwelt Namibias noch die Verehrung für einen großen Leichtathleten. Beides resultiert aus Ausgrenzungserfahrungen eines kleinen farbigen Mädchens in Frankreich, die im Kindergarten beginnen und sich mit von dem Kind noch nicht verstandenen Blackfacing-Erfahrungen im Karneval und gut gemeinten, aber wie ein Schlag in die Magengrube wirkenden Ratschlägen des Lehrers fortsetzen. Diese Erfahrungen gehen einher mit dem Verlust der Selbstsicherheit und gipfeln in der Erkenntnis, nie den eigenen Platz gefunden zu haben. Immer wieder sind es Sportler, an denen die Heranwachsende sich misst: die schöne Marie-José Pérec mit ihren schlanken Gazellen-Beinen zum Beispiel - doch als Penda trainiert, um ähnlich erfolgreich zu werden, stellt sie fest, dass ihr Körper sich eher dem von Serena Williams angleicht („deren Schönheit erst später wahrgenommen wurde“, wie sie maliziös feststellt). Doch sie identifiziert sich auch mit Jane Eyre, der (weißen) Romanheldin von Charlotte Brontë, die nach Jahrzehnten der Armut und Zurückweisung schließlich doch zu einem fragilen Glück findet - einem Glück, das, wie wir glauben und hoffen, auch Penda Diouf und Nanyadji Kagara beschieden ist.

Diese individuelle Geschichte hat schon ausreichend Sprengkraft. Unwillkürlich denkt man an die Berichte aus den Pariser Banlieues oder an die Angriffe auf Flüchtlingsheime, an die Anschläge von Hanau oder die Hetzjagden von Chemnitz. Doch in einem zweiten, nicht weniger unter die Haut gehenden Strang arbeiten Diouf und Kagara den Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama auf, den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. In kurzen geschichtlichen Abrissen sprechen sie die Berlin-Konferenz von 1884/85 an, die zum Auftakt der Aufteilung großer Teile des afrikanischen Kontinents unter den europäischen Großmächten wurde; der sogar zu Kolonialzeiten berüchtigte General von Trotha wird erwähnt, der seine Schwächen im militärischen Bereich durch besondere Grausamkeit gegenüber der lokalen Bevölkerung des damaligen Deutsch-Südwestafrikas zu kompensieren versuchte; voller Wut und mit Worten, die unmittelbar auf die Magengrube des Zuhörers zielen, wird von den Tötungsbefehlen, den grausamen Folterungen und den Leichenschändungen berichtet, vom Abschlagen der Köpfe, die dann zu wissenschaftlichen oder Ausstellungszwecken nach Berlin exportiert wurden. Neben Frankie Fredericks tritt für die junge Namibia-Reisende ein anderer namibischer Held auf den Plan: der Nama-Führer Hendrik Witbooi, der (nachdem der machtbewusste Kaptein zunächst eine Weile mit den deutschen Schutztruppen in Südwestafrika gegen den konkurrierenden Stamm der Herero paktiert hatte, was Diouf nicht erwähnt), einer der charismatischsten Widerständler und Kämpfer gegen die deutsche Kolonialherrschaft wurde und dessen Konterfei heute die Banknoten des Namibia-Dollar ziert..

Was die wenigsten Menschen im Publikum wussten: Zum ersten Kaiserlichen Kommissar in Deutsch-Südwest wurde im Jahr 1885 Heinrich Ernst Göring ernannt, der Vater des späteren Reichswirtschaftsministers in Hitler-Deutschland Hermann Göring; auf Shark Island in der Lüderitzbucht errichteten die Deutschen ab dem Jahre 1904 ein Konzentrationslager, in dem Herero und insbesondere Nama durch systematische Unterernährung in den Tod getrieben wurden. Der Holocaust, schließt Diouf daraus, habe seine Wurzeln in Südwestafrika - eine steile These, die irgendwie an Sippenhaft erinnert, zumal Heinrich Görings jüngerer Sohn Albert im Nationalsozialismus zu den entschiedenen Regime-Gegnern zählte, dessen Widerstandshaltung belegt ist. Ähnliche Grausamkeiten wie sie die Deutschen in Südwestafrika begangen sind auch aus der belgischen Kolonie Kongo und aus anderen Kolonialherrschaften bekannt, was den Schrecken nicht mindert. Aber es steht zu befürchten, dass ungebremstes Machtstreben und ein fanatischer Glaube an die Überlegenheit einer Rasse im Menschen derartige Vernichtungsinstinkte weckt.

Keine Frage: Sind Dioufs historische Angaben auch stets faktenbasiert, so ist ihre Interpretation nicht immer ausgewogen. Die Herleitung des Holocaust aus den (zweifellos ähnlich grausamen) Geschehnissen in der Kolonialzeit oder auch die Erklärung für die angeblichen genetischen Vorteile afrikanisch-stämmiger Sportler („Nur die Stärksten kamen auf die Sklavenschiffe“, und „nur die Widerstandsfähigsten überlebten“) sind angreifbar. Und doch gehören sowohl Dioufs literarisch herausragend komponierter Text als auch Kagaras Performance zu den Höhepunkten des Düsseldorfer Festivals. Die Verschränkung zwischen individueller Geschichte und Weltgeschichte gelingt ebenso perfekt wie die permanenten Wechsel der Tonalität: Suggestiv kitzelt Kagara die poetischen Momente aus dem Text; Wut und Vorwürfe werden ohne Aggressivität, aber mit schmerzhafter Intensität geäußert, Wiederholungen der Begriffe, die Diouf für die Verletzungen des geschundenen Landes gefunden hat, gehen unter die Haut und geben dem Text Struktur. „Je reste digne“, sagt Kagara einmal - Dioufs „Klagelied des gerösteten Sandes“ gibt den Opfern des ersten Völkermordes des 20. Jahrhunderts ihre Würde zurück und öffnet die Augen für die Reste kolonialen Elite-Denkens in unserer Gesellschaft. Standing Ovations von einem leider nur spärlich erschienenen Publikum.

(Übrigens wird Frankie Fredericks am 7. August 2021 eine Nachfolgerin bekommen. Wetten: Die nächste namibische Olympia-Medaille geht an Christine Mboma im 400-m-Lauf!)