Die falschen Rappen dickgefüttert
Für seine im Oktober 2018 am Hamburger Lichthof-Theater uraufgeführte Recherche- und Regiearbeit „Cum-ex Papers“, die den größten Steuerraub der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte beleuchtet, hat der Regisseur Helge Schmidt den deutschen Theaterpreis „Der FAUST“ erhalten - und zwar in der Kategorie „Regie Schauspiel“. Streng genommen ist das eine Fehlentscheidung, denn Schmidt ist nicht der herausragende Regiekünstler, sondern der aktuell vielleicht spannendste Vertreter des Dokumentartheaters. Ausgestattet mit einem untrüglichen Spürsinn für brisante Stoffe, arrangiert er mit großem Fleiß und großer Genauigkeit recherchierte Fakten aus Wirtschaft und Politik leichthändig und locker für die Bühne, ohne dabei die Komplexität der Materie aus den Augen zu verlieren. Tax for free heißt nun die Fortsetzung der Cum-ex Story, die vor allem die Abhängigkeiten zwischen Politik und Wirtschaft unter die Lupe nimmt. Schmidt blickt auf einen besonders krassen Einzelfall, in dem der Staat zum Wohle des Betrügers und zu Lasten des Steuerzahlers auf die Rückzahlung eines durch illegale Steuertricks erworbenen Betrages in Höhe von 47 Mio Euro verzichtete.
Wer wissen will, wie die komplexen Cum-ex-Geschäfte funktionierten, durch die die Marktteilnehmer eine (legale) Steuerrückerstattung nicht einmal, sondern doppelt kassierten, lese noch einmal die theater:pur-Rezension zu Helge Schmidts Vorgänger-Inszenierung (siehe hier) Staubtrocken wie das Tax Business nun einmal ist, wird dort der spannende Drahtseilakt beschrieben, mit dem Banken sich eine doppelte Steuerrückerstattung auf Dividendenerträge erschlichen. Schon damals wies Schmidt in seiner Inszenierung darauf hin, dass zumindest die Politiker Hans Eichel, Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble von den betrügerischen Aktivitäten am Finanzmarkt gewusst haben, ohne einzuschreiten. Zu den wesentlichen Akteuren und Profiteuren im Cum-ex-Skandal gehörte die renommierte Hamburger Privatbank M.M.Warburg - klein, aber fein, mit mehr als 200jähriger Tradition, der bei Privatbanken üblichen noblen Clientèle und zumindest vordergründig einem hohen gesellschaftlichen Engagement. Vieles von dem, was in den Gerichtsprozessen gegen Vertreter der Bank zur Sprache kam, wurde nur öffentlich, weil der Mitinhaber und persönlich haftende Gesellschafter der Bank Christian Olearius freundlicherweise Tagebuch geführt hat. Aus diesen Tagebüchern wird auch in Schmidts Inszenierung ausgiebig, wenn auch meist indirekt zitiert.
Da gab es zum Beispiel die Frau P., Finanzbeamtin ihres Zeichens, wie Olearius in Blankenese daheim und in teilweise sogar gleichen Kreisen verkehrend. Sie war beim Finanzamt mit dem Warburg-Fall befasst und zeigte Unabhängigkeit und Stärke: Sie verdonnerte die Bank zu einer Rückzahlung von € 47 Mio. - einem Betrag, der schmerzt, aber der erfolgreichen Privatbank wohl nicht den Hals gebrochen hätte. Warburg aber barmte: Der Bank drohe die Pleite. Man intervenierte beim Ersten Bürgermeister und beim Finanzsenator. Und Frau P. fiel um. Sie erstellte ein neues Gutachten und kam zu dem Schluss, dass es keine Anzeichen für ein nicht regelkonformes Handeln der Bank gegeben habe. Noch als im Gerichtsprozess vor dem Landgericht Bonn die Illegalität der Cum-ex-Geschäfte und die Vorsätzlichkeit des Handelns der Bank bestätigt wurde, blieb sie bei ihrer - neuen - Version. Das Tagebuch des Christian Olearius dokumentiert derweil zahlreiche Geheimtreffen mit Olaf Scholz und Peter Tschentscher - dem damaligen Ersten Bürgermeister und seinem heutigen Nachfolger, dem damaligen Wirtschaftssenator. Auch als die Illegalität der Transaktionen gerichtsfest ist, weigert sich die Hansestadt Hamburg, gegen Warburg vorzugehen. Als das Bundesfinanzministerium den Stadtstaat anweist, die Steuerschuld einzutreiben, sind weite Teile der Forderungen gegen die Bank verjährt.
Mit beachtlichem Humor und spitzer Zunge dokumentiert Schmidt die offensichtlichen Kungeleien zwischen dem Vorzeigeunternehmen (vertreten durch die persönlich haftenden Gesellschafter Olearius und Max Warburg) und der Stadtregierung. Die Inszenierung agiert parallel (oder besser: abwechselnd) auf drei Ebenen. Zum einen erstattet sie Bericht über den Verlauf der Untersuchungen und die regelmäßig erfolgenden Interventionen der Bank bei Olaf Scholz. Per Video werden zweitens Expertenmeinungen von Journalisten (Oliver Schröm von „Panorama“, Oliver Hollenstein vom „manager magazin“), Politikern (ausgewogenen und sachkundig: Fabio de Masi von der Partei DIE LINKE) und dem Ex-Grünen-Politiker und heutigen Vorstandsmitglied des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende e. V. Gerhard Schick eingespielt. Auf einer dritten Ebene - darüber wird noch zu sprechen sein - wird in rudimentären Zügen die Geschichte von Kleists Michael Kohlhaas erzählt. Die Sinnhaftigkeit von Lobbyarbeit und regelmäßigen Kontakten zwischen Wirtschaft und Politik wird nicht angezweifelt. Aber intensive Geheimgespräche zwischen Wirtschaftsvertretern, die persönlich oder deren Unternehmen unter Anklage stehen? Das geht doch wohl zu weit - und wird, wie wir heute wissen, auch zum Problem für die Kandidatur von Olaf Scholz für das Amt des Bundeskanzlers. Der Cum-ex-Fall, so Gerhard Schick, „kratzt am Grundvertrauen in unsere Demokratie.“
Auch wenn die in Tax for free beleuchteten Vorgänge leichter zu durchschauen sind als die Hintergründe der Vorgänger-Inszenierung „Cum-ex Papers“, bleibt der Stoff naturgemäß staubtrocken. Dem versucht der Regisseur durch eine a priori interessante Idee entgegenzuwirken: Er blendet knapp 500 Jahre zurück auf den Fall des Rosshändlers Michael Kohlhaas und den Rappenfänger von Tronka, den Heinrich von Kleist in seiner Novelle aus dem Jahre 1808 unsterblich machte. Wir erinnern uns: Der Junker von Tronka hatte Kohlhaas durch staatliche Willkür um zwei starke und gesunde, als Reitpferde gedachte Rappen gebracht, die Kohlhaas als Pfand hinterlassen musste. Als er die Pferde wieder einlösen will, sind diese bis aufs Skelett abgemagert und wertlos. Kohlhaas klagt auf „Dickfütterung“ der Pferde, doch wird die Klage auf Intervention des Junkers nicht zugelassen. So weit, so gut - Parallelen zwischen dem Junker und dem Olaf sind erkennbar: So wie der Staatsbürger durch Warburg, Scholz und Tschentscher um seine Steuergelder betrogen wurde, so wird Kohlhaas vom Vertreter einer - allerdings sehr lokalen und subalternen - Staatsmacht um seine Zossen betrogen; so wie der Stadtstaat Hamburg die Verfolgung von Warburg und die Rückerstattung der volkseigenen 47 Millionen durch Verschleppung und mutmaßliche Intervention bei den Finanzbehörden verhindert, so verhindert von Tronka ein Urteil zugunsten von Kohlhaas. Ein bisschen irritierend ist die Gleichsetzung der beiden Vorgänge allerdings schon: Man hat den Eindruck, dass auf die dramaturgische Parallelführung der beiden Geschichten weniger Sorgfalt verwandt wurde als auf die Recherche der politischen Vorgänge. Klar wird dennoch: Scholz hat die falschen Rappen dickgefüttert - die, die längst genug Heu haben, während dem darbenden Volk die dringend für Bildungsmaßnahmen oder Straßenbau benötigten Gelder vorenthalten wurden.
Manchmal wirken die ausgedehnten Kohlhaas-Passagen wie ein Störfaktor. Doch halt: Es gibt da einen anderen, zunächst ebenfalls verwirrenden Gedankengang. Kohlhaas wird in seinem Feldzug gegen die Willkür der Staatsmacht zum Mörder und Brandschatzer, bevor er sich selbst der Gerichtsbarkeit stellt. Hier liegt die zweite, vielleicht wichtigste Botschaft der Inszenierung: Ein Verhalten wie das von Scholz und Tschentscher vermag die um ihre Steuergelder betrogene Bevölkerung im schlimmsten Fall ebenfalls in die Hände der Radikalen zu treiben. Fragwürdig wird dann aber wieder die Schlussfolgerung, Kohlhaas rufe nicht nach weniger, sondern nach mehr Staat, damit der Willkür einiger Mächtiger Einhalt geboten werde. Nun, in Hamburg war es eindeutig der Staat, der die falschen Rappen dickgefüttert hat, auch wenn die Bundespolitik offenbar Genugtuung für das Kohlhaas-Volk gefordert hat...
Die vier Schauspieler teilen sich zahlreiche Rollen. Günter Schaupp überzeugt sowohl als bodenständiger Landmann Kohlhaas mit Reitstiefeln und Kleie an den Füßen als auch als breit schnackender hanseatischer Banker. Er wehrt sich am erfolgreichsten gegen die allzu karikaturistische, manchmal dem Kindertheater sich nähernde Spielweise, zu der Schmidt vermutlich der Auflockerung des trockenen Stoffes willen aufgerufen hat. Laura Uhlig und Ruth Marie Kröger müssen auch schon mal als neckische Pferdchen über die Bühne hoppeln, Jonas Anders muss mit dem Geldsack auf dem Rücken seine bevorstehende Insolvenz beklagen oder den Banker als weinerliches und trotziges Rotzblag karikieren. Das generiert ein paar Lacher aus dem Publikum, aber für eine bissige Satire oder ein scharfes Politkabarett sind die Gags nicht schneidend genug und die Rechercheteile der Inszenierung zu ernsthaft. So lautet das Fazit des Rezensenten erneut: eine ambivalente Regieleistung, aber eine grandiose Recherche. Und somit ein lohnender Dokumentartheaterabend.