Als wär’s ein Stück von gestern
Es soll ein Blick aus der fernen auf die nahe Zukunft sein. Was im Roman vielleicht noch als monströse Dystopie daherkommt, erlahmt auf der Bühne zu biederem Kulturpessimismus.
„Es war die Zeit vor irgendwas“, heißt es im Text: der Brexit ist gewesen (als Sybille Berg 2019 den Roman schrieb, stand er noch bevor), die EU hat sich aufgelöst, das Königshaus lebt im Exil und England, da spielt das Ganze, wird von senilen Alten-Weißen-Männern in einen rechtsradikalpopulistischen Überwachungsstaat geführt. Diese korrupte, perverse, höchst unappetitliche Führungsclique mit samt ihren elternmordenden, dümmlichen Nachkommen wird im Bühnenstück allerdings nur im Nebensatz erwähnt. Im Roman spielt sie die Rolle der Bösen.
Auf der Bühne bleiben zwei Ebenen, und das im wahrsten Sinne des Wortes: hochoben rotiert eine riesige Werbetafel, auf der im Livestream ein zu Hybriden erstarrtes Paar agiert: vor pastellfarben strahlendem Hintergrund, im Fünfziger-Jahre-Outfit unter perückenhaft toupierter Haarpracht starren uns weit aufgerissene himmelblaue Augen aus faltenlosen Gesichtern an, die Münder in breitem Lächeln fixiert. Stereotyp versichern sie ihr Wohlbefinden: „Uns geht’s gut. Wir befolgen die Regel, und das zahlt sich aus.“ Man könnte sie für Avatare halten, kämen sie (Gabriela Maria Schmieder und Tim Porath) nicht irgendwann ganz lebendig auf die Vorderbühne, um ihr angebliches Wohlbehagen zu explizieren in einer digitalen Überwachungsdiktatur, die jedem ein angeblich bedingungsloses Grundeinkommen gewährt, allerdings dann doch nur unter der Bedingung, dass man sich einen Überwachungs-Clips einpflanzen lässt, der es einem digitalen Kontrollsystem ermöglicht, Wohlverhalten zu belohnen und Fehlverhalten zu bestrafen. Bei diesem gnadenlosen Punktesystem sind unsere beiden Mittelschichtler - er Lehrer, sie Logopädin - durchs Raster gefallen. Ihnen bleibt eine Schlafstelle in gestapelten Wohnröhren (die allerdings nicht ins Bild gesetzt werden) und eine VR-Brille, mit der sie sich ihr altes Leben als Virtual-Reality-Simulation zurückmogeln können.
Das alles ist nicht neu. Da gab’s schon einiges, was mir einfällt: 2013 Dave Eggers‘ The Circle, 1982 Damian F. Brodericks Judas Mandala, 1932 Aldous Huxleys Brave New World oder gar 1949 George Orwells 1984, dessen Big Brother man durchaus als Zitat vermuten darf, wenn in einer Szene ein riesiges Auge auf der Videowand erscheint.
Nach einem Jahr Streaming-Theater schaut man zweifellos lieber auf die „untere“ Ebene des Bühnengeschehens: Auf der ständig rotierenden abgedunkelten Bühne agiert parallel zu den system-konformen Untergangsvisionen eine Gruppe junger Leute, die sich dem System verweigert. Im Roman zwei Gruppen: zum einen vier verarmte, ausgegrenzte Kinder der untersten Unterschicht - Straßenkinder, mit höchst individuellen, gebrochenen Biographien, divers-ramponiertem psychologischem und sozialem Background, junge Menschen, die sich dem Zugriff des Systems clever und gewitzt entziehen und die Anarchie für sich ausrufen: „Ihr wollt Krieg, ihr bekommt Krieg!“- zum anderen eine Gruppe jugendlicher Hacker, Die Freunde, entschlossen, das korrupte System mit eigenen Mitteln zu attackieren. All diese Charaktere lässt der Stücktext zu einer anonymen Gruppe von sechs Nobodys verschmelzen (der Siebte fehlt wegen Krankheit, was bei dieser Entindividualisierung nicht weiter auffällt). Es wird chorisch gesprochen (nicht immer synchron, nicht immer gut verständlich), gelegentlich auch mal mit „what the fucks“ coolness behauptet. Oder man räkelt sich handy-tippend auf dicken Leder-Sofas (ziemlich komfortabel, selbst für Trash!). Und wenn es dann tatsächlich ein Schicksal von unten nach oben auf die Videowand schafft, dann wird von Karens Liebe zu einem bildschönen jungen Mann berichtet, dabei aber verschwiegen, dass dieser pakistanische Schönling sich als Lude entpuppt, der das hochbegabte Mädchen zur Sucht und Prostitution zwingt. Wozu diese Entschärfung, Verflachung?
Da bleibt zu loben nur der im Untertitel angekündigte musikalische Teil: Das sogenannte Musical. Wild tanzen die jungen Leute zu Original-Grime-Songs der Ruff Sqwads Art Foundation, die aber leider nur vom Band kommen. Diese titelgebende Musik, Grime oder verkürzt GRM, bezeichnet sich selbst als „größte musikalische Revolution seit Punk“ und animiert zu tobenden Tänzen: da mischt sich Popping, Locking, Breaking zu Hip-Hop.
Doch nach diesem furiosen Intermezzo resigniert auch das Jungvolk bei Sybille Berg: „Zukunftsangst ist das Hobby der Alten, die ohnehin keine Zukunft mehr haben“, deklamieren sie und resümieren in bieder-bürgerlichem Outfit: „Alles wie gehabt, nur unter Kontrolle. Alles wie gewohnt, nur weniger Natur.“
Schade, da sollte man Greta Thunberg mal vorbeischicken!
Manches von Inhalt und Regie ist uns vertraut: dystopische Zukunftsvisionen der Autorin Sybille Berg und chorisches Sprechen bei den von Sebastian Nübling inszenierten Arbeiten kennt der Theaterfreund. Doch diesmal bleibt man seltsam unberührt, das alles spielt sich irgendwo rein theoretisch ab, erreicht einen nicht, kommt über Behauptungen, Thesen nicht hinaus. Und die sind bekannt.
Dennoch: Das ungewöhnlich junge Festival-Publikum spendet heftigen Applaus, die Schauspieler*innen haben ihn verdient.