Infinite jest - Spaß zum tot-lachen
Eine schmutzige Betonmauer quer über die Saalfront, davor ein paar Stühle, links in der Ecke ein Plastikteil, das sich später als Whirlpool entpuppt. Ein Rechteck auf dem Boden als Bühne abgeteilt, davor setzen sich die Spieler mit dem Rücken zum Publikum.
Vier von ihnen greifen sich einen Stuhl, setzen sich im Halbkreis, bilden das Aufnahmegremium der Enfield Tennis Akademie. Vor Ihnen steht in weißem Ganzkörperbodysuit auf Turnschuhen mit Adidas-Streifen und riesigen Plateausohlen der Prüfling, der sich um die Aufnahme bewirbt. Ursina Larding spielt den achtzehnjährigen Hal Incandenza, der völlig apathisch in die wirr palavernde Prüferrunde starrt. Sich dann monoton als exzellenten Tennisspieler, Hochbegabung, Gedächtnisgenie und Sohn des verstorbenen Akademiegründers rühmt, ein Sprachstrom, der durch die mehrfach wiederholte Nachfrage der Prüfer: „Warum sagen Sie nichts?“ als Gedankenstrom erkennbar wird, um dann in einem irren Kreisch-Krampf und Zusammenbruch zu enden. Im Roman erscheinen Sanitäter und schaffen ihn ins Krankenhaus - ins Irrenhaus? Auf der Bühne geht er einfach ab.
Diese erste Szene im Stück wie auch im Buch gehört chronologisch ans Ende des Geschehens, weist aber zugleich wichtige Spuren zu den folgenden Ereignissen.
Zunächst ist da der Prüfling Hal Incandenza, ein Protagonist der Geschichte, der in seiner ganzen Ambivalenz vermutet werden kann (von Larsing allerdings reichlich flach und eindimensional gegeben): geistig wie sportlich ein cooler Supertyp, psychisch jedoch beschädigt, tief verzweifelt, seit langem drogensüchtig, wie wir später erfahren. Wer aufpasst, kann sowohl autobiographische als auch literarische Hinweise ausmachen: zum einen auf den Autor D. F. Wallace, den erfolgreichen aber auch depressiven, süchtigen Menschen (mit 46 nahm er sich das Leben); zum anderen auf Shakespeares Hamlet, den äußerlich funktionierenden, innerlich leidenden Helden. Schon der Titel (im Original: Infinite jest) ist ein Hamlet-Zitat: als Ophelias Grab ausgehoben wird, findet sich der Schädel des Hofnarren Yorick darin und Hamlet erinnert sich an ihn als einen fellow of infinite jest.
Dann die Vaterfigur: James Incandenza, der dem Sohn als Geist erscheint und nach seinem Tod (im Roman wird er nicht ermordet, sondern begeht mit 54 Selbstmord) von der Mutter durch seinen Bruder Charles ersetzt wird (beide treten im Stück nicht auf).
Eine weitere Spur legt die erste Szene auf eine sprachliche Sonderheit: das pseudowissenschaftliche, langatmige Palaver mit Wortverdrehungen und Nonsens-Schöpfungen der Prüfer wiederholt sich in vielen Szenen und persifliert oder denunziert immer wieder ironisch, zynisch gesellschaftliches wie persönliches Bewusstsein. Gelegentlich greift der Autor auch als Ausflucht zu einem frivol-dümmlichen Witz oder plumpen Kalauer, wie „Die Eltern der Föten sind vonnöten“, wenn sich der verkrüppelte Mario Incandenza in einem ergreifenden Monolog selbst so drastisch wie zärtlich vorstellt.
Übrigens ein weiteres Stilmittel: Die Monologe. Im Stück noch dominanter als im Roman, reihen sich Monologe - gelegentlich auch Dialoge - wie eine Nummern-Revue aneinander und überlassen es häufig dem Publikum, Zusammenhänge herzustellen. Dabei stellt sich bald heraus, dass ein zweiter Handlungsort (nach der Akademie), ein Drogentherapiezentrum ist. Und in der Tat sind alle Figuren therapiebedürftig. Schon der Titel, das Hamlet-Zitat, wird im Roman wortgleich zum Titel eines verlorengegangenen, suchterzeugenden (!) Filmes, den aufzuspüren alle bemüht sind (ein Motiv, das sich durch den Roman zieht, vom Redakteur und Regisseur des Stückes Thorsten Lensing aber nicht aufgenommen wird).
Damit sind wir bei den Insassen der Heilanstalt. Oder der Irrenanstalt. Das heißt, bei der grandiosen Leistung der Schauspieler zur Imitation der unterschiedlichsten psychischen Abnormitäten. Ein fantastisches Spielfeld für Super-Komödianten wie Devid Striesow und Sebastian Blomberg, die sich mit Leidenschaft und Selbstironie von einer Rolle in die andere stürzen. Vielleicht wird die eine oder andere Szene etwas überzogen, doch lange wurde im Stadttheater nicht mehr so herzhaft gelacht und das wohl weniger über die Dargestellten, als über die Darsteller: es ist Striesow, der uns mit seiner bizarren Mimik zu jeder seiner Bemerkungen zum Lachen reizt: der Mann ist einfach urkomisch in seiner naiven Eitelkeit und spielerischen Übertreibung, die reine Selbstkarikatur. Ganz gleich, ob er das Mädchen von nebenan in Plissee-Kleidchen und Schleife im Haar gibt oder den grausamen Zwangsneurotiker Randy Lenz im Schlabbermantel, der Katzen töten und vor Uhren davonlaufen muss.
Und dann immer wieder Auftritte als Orin, den ältesten der Incandenza-Brüder, ein sexsüchtiger Beinahe-Football-Star, der irgendwann im Whirlpool planscht, als Sebastian Blomberg als leibhaftiger Riesenvogel tot „vom Himmel fällt“ und bei ihm im Pool landet. Eine Szene wie reiner, alberner Klamauk, die allerdings im Roman einen tiefschwarzen Hintergrund hat: das apokalyptische Vogelsterben, weil ein monströses Abgasgebläse die Luft in Teilen des Landes vergiftet. (Nur eine Andeutung der ansonsten im Stück gestrichenen Science-Fiction-Geschichte.)
Blomberg begeistert außerdem mit einem Slapstick als Vatergeist, wie mit der Blödigkeit eines Zigarren-Rauchringe blasenden Psychiaters. Striesow und Blomberg schaffen Karikaturen mit authentischem Kern, die den Blick auf die existentiell Verzweifelnden nicht wirklich verstellen.
Im krassen Gegensatz zu all den Clownerien steht dennoch die stille, teilnehmende Anwesenheit des André Jung als jüngster, verunstalteter Incandenza-Bruder. In einem berührenden Monolog stellt er schlicht, ohne Pathos oder Mitleid heischende Selbstgefälligkeit sein Schicksal dar. Der Wahrheit verpflichtet, nimmt er sein Schicksal an und vermag andere liebevoll zu trösten. Schweigend und glücklich präsentiert er sein Werk auf einer mühsam herbeigeschafften Leinwand: Eindrucksvolle Porträts der Mitspielenden. Ein grandioses, abgründiges Solo.
Kraftvoll und überzeugend auch Heiko Pinkowski als Don Gately, einst Drogensüchtiger und Beschaffungs-Dieb, jetzt trocken und engagierter Betreuer der Beschädigten, Hilflosen.
Im Einsatz für einen seiner Schützlinge wird er angeschossen, aus Angst vor einen Rückfall in die eigene Sucht verweigert er jegliche Medizin. Es endet in Agonie.
Der Roman lässt es offen, ob er überlebt. Auf der Bühne bleibt keine Hoffnung.
Ergreifend und schockierend zugleich das Solo von Anne Müller als neurotische Mutter, die ihre Zombie-Totgeburt mit sich herumschleppt und nicht aufhören kann, darüber zu reden. (Sie sprang kurzfristig für die erkrankte Jasna Fritzi Bauer ein und berührte zutiefst.)
Thorsten Lensing wagt sich mutig an ein anspruchsvolles Unterfangen: einen komplizierten Roman von mehr als eintausendfünfhundert Seiten auf vier Stunden Spielzeit zu kürzen, ohne den Sinn und Zusammenhang zu verlieren. Einen Roman, dessen Autor eine „neue Aufrichtigkeit“ einfordert und die Geduld des Lesers mit gewaltigen Gedanken- und Sprachschleifen herausfordert (so ergeben z. B. seine Anmerkungen allein 388 Seiten und die Filmographie des James Incandenza, dessen verlorener Film Unendlicher Spaß gesucht wird, zwölf Seiten). Tückisch dabei ist, dass diese Abweichungen vom Erzählstrang (soweit es den überhaupt gibt), immer wieder wichtige Informationen enthalten, die dem Querleser, der das eine oder andere nur mal eben überfliegt, entgehen.
Allerdings ist es letztendlich nicht gar zu schlimm, wenn die Adaption nicht alles verständlich wiedergibt, da die hohe Kunst, die Virtuosität der Darstellung jede Szene aus sich heraus wirken lässt. Zudem überlässt Wallace am Ende des Romans ohnehin vieles dem Leser, so bleibt das Schicksal der beiden Protagonisten Hal Incandenza und Don Gately ungeklärt und manche Behauptung wird zudem durch Ironie und Zynismus relativiert.
Der 1996 in den USA veröffentlichte Roman erschien übrigens erst 2009, ein Jahr nach dem Freitod des Autors, in einer ersten deutschen Übersetzung von Ulrich Blumenbach, die auch der Adaption zugrunde liegt.