Was ist wahr?
Der Raum ist dunkel. Schwarze Wände, Metalltüren mit Sichtklappen ringsherum. Luisa Guarro schafft diese düstere Umgebung für ETA Hoffmanns Sandmann. Ein Gefängnis? Wohl eher das, was man im 19. Jahrhundert als „Irrenhaus“ bezeichnet hat. Hierhin hat es Nathanael verschlagen, dessen Ängste ihn immer wieder und immer weiter forttreiben von dem, was man als Realität beschreiben würde.
Diese Ängste hat er schon in seiner Kindheit, als seine Eltern ihn mit der Erzählung vom grausamen Sandmann zu maßregeln versuchten und sie potenzieren sich beim erwachsen Werdenden. Doch wovor fürchtet sich Nathanael wirklich? Sind es die grausamen Alpträume oder doch mehr das stählerne Korsett eines bürgerlichen Lebens, das sich immer drohender und enger um ihn legt und ihn zu ersticken droht? Diese Frage stellt Hoffmann mit meisterhafter Doppelbödigkeit und Luisa Guarro setzt sie in Bilder um, die immer auch einen Anflug von Grusel und Mysterium enthalten, bisweilen allerdings ein Stück zu lange ausgereizt werden.
Durch ein Alter Ego für Nathanael verdeutlicht sie dessen Zerrissenheit auch physisch. Florian Bender verkörpert ein Wrack. Die seelischen Wunden zeigen sich in körperlicher Versehrtheit. Auch sonst gelingen Momente voller Hochspannung. Berührend Nathanaels Liebe zum Automaten Olimpia. Guarro schafft es hier, Fragezeichen auf die Bühne zu stellen. In einem Moment ist ganz klar, dass Nathanael weiß, dass Olimpia kein Mensch ist. Er will sie nur, um nicht wirklich kommunizieren, sich auseinandersetzen zu müssen. Und dann gelingt es Markus Hennes als Nathanael, diese ganze schöne und eben erlangte Gewissheit mit einem Augenaufschlag, einem schmachtenden Blick zu zerstören: So sieht doch nur wahre, innige Liebe aus, oder?
Am Ende wird dann doch das „Irrenhaus“ zum Wunschort für Nathanael. Die offene Tür durchschreitet er nicht, will nicht hinaus in eine Welt, die zu viele Fragen an ihn stellt, zu viele Entscheidungen von ihm fordert. Und in der ihm andere Arten von Gefängnissen. Markus Hennes als zutiefst verunsicherter Nathanael führt ein Schauspielensemble an, das ETA Hoffmanns Sandmann facettenreich dem Publikum nahe bringt.Johannes Langer und Jürgen Lorenzen als alptraumhafte Plagegeister treiben Nathanael immer weiter in totale Verunsicherung. Das tut auch glanzvoll Ivana Langmajer als Olimpia und als Mutter, die als erbarmungslose „Schwarze Witwe“ daher kommt. Ebenso erbarmungslos Rosana Cleve als Verlobte Clara. Süß und lieblich in bräutliches Weiß gekleidet, will sie Nathanael in einen Lebensentwurf pressen, der ihr genehm ist.
Dem Borchert-Theater gelingt mit „düsterer Romantik“ ein licht-verheißungsvoller Saisonauftakt.