Die Toten im Bochum, Jahrhunderthalle

Die Untoten, traumschön, anstrengend und musikalisch

Irgendwann im Verlauf dieses anstrengenden, Kopf und Sitzfleisch malträtierenden, aber die Seele mit unendlicher Melancholie streichelnden Theaterabends beschleicht den Rezensenten das Gefühl, die Figuren, deren Geschichte er zu folgen versucht, seien längst tot. Es ist, als seien es Zombies, die Barbara Frey mit strengem Formwillen auf die Bühne gestellt hat, die meist in Formation auftreten und sich nur langsam, manchmal gar linkisch bewegen. Aber diese Untoten repräsentieren die statische, paralysierte Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende in Dublin, die sich längst überlebt und zur Wahrung alter Traditionen (oder zum Schutz gegen die Modernisierung) in einen Kokon eingesponnen hat. Frey hat Die Toten, die letzte Erzählung aus dem Dubliners-Zyklus von James Joyce, auf die Bühne gebracht, ergänzt um Texte aus dem Ulysses und aus Finnegans Wake. Die Protagonisten dieser Inszenierung leben, doch sie leben in einer untergehenden Welt - und ihr Denken wird mehr und mehr von den Geistern der Toten bestimmt, die auf merkwürdige Weise Macht über die Figuren zu erhalten scheinen und ihnen größer als die Lebenden erscheinen. So ist der Gedanke an die Untoten vielleicht nicht gar abwegig. Tatsächlich stimmen die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler zum Ende des zweistündigen Abends das Wienerlied von Leonard Cohen an, einen langsamen, düsteren, traumschönen Walzer aus der Bar, in der die Männer ihre Gespräche längst eingestellt haben: „They’ve been sentenced to death by the blues.“

„This waltz it’s been dying for years…“ Was Frey am Schauspielhaus Zürich in ihrer seinerzeitigen Abschiedsinszenierung angerichtet und jetzt als Ausweis ihres Regie-Stils für ihre erste Spielzeit als Intendantin der Ruhrtriennale in die Bochumer Jahrhunderthalle übertragen hat, ist ein „piece that was torn from the morning; it hangs in the Gallery of Frost“. Draußen fällt der „Schnee auf alle Lebendigen und Toten“. Doch die Bilder in dieser Galerie klirren keineswegs vor Kälte. Es ist nicht der Frost, sondern eine Art Endzeit, in der diese Figuren festhängen. In ihren schwarzen Kleidern und Fräcken, in den dunklen Räumen des Hauses auf Usher’s Island werden sie von Rainer Küng in heimeliges warmes Licht getaucht, das die Melancholie des Abends unterstreicht. Sie formieren sich manchmal zu biedermeierlich anmutenden tableaux vivants, sitzen steif, starr und synchron am Esstisch oder nebeneinander an einer Tafel, die wirkt wie das Podium einer langweiligen Hauptversammlung. Martin Zehetgrubers wunderbare Bühne, die stets Einblicke in drei Räume gleichzeitig zulässt, dreht sich, und wenn sie tanzen, wandern die Gäste der Damen Morkan langsam und gemessenen Schrittes in einer traurigen Polonaise durch das Haus. Miss Kate und Miss Julia Morkan, zwei altjüngferliche Damen der gehobenen Dubliner Mittelschicht, sowie ihre Nichte Mary Jane geben ihr alljährliches Fest, und alle, alle kommen: Von skurrilem Humor ist die minutenlange Aufzählung der Gäste mit ihren exzentrischen Namen, die wohl vorwiegend Finnegans Wake und anderen merkwürdigen Werken der Literatur entnommen sein dürften. Skurrilen Humor schätzen wir normalerweise auch bei dem Musiker Jürg Kienberger, der sich hier brav in die Riege der melancholischen Akteure einreiht. Er spielt als Pianist zum Tanz auf, und die Vermutung liegt nahe, dass er nicht nur den musikalischen Teil des Abends beeinflusst hat. Vor allem aber gehören zu den Gästen der intellektuelle Lieblingsneffe der alten Damen Gabriel Conroy, der auch als Festredner vorgesehen ist, und seine Frau Gretta. Gretta wird ihrem Mann nach dem Ende des Fests erstmals von einem jungen Verehrer berichten, der an Schwindsucht starb, kurz nachdem Gretta ihn abgewiesen hatte. Die Frau gibt sich die Schuld am Tod des jungen Mannes, und Gabriel glaubt zu erkennen, dass diesem - und nicht ihm selbst - noch heute die wahre Liebe Grettas gehört. So wie zuvor schon die Toten immer wieder die Gespräche und die Gedanken der Festgesellschaft dominiert haben, legt sich nun auch der Schatten des toten Michael Fury auf die durch das Wissen um die Jugendliebe seiner Frau noch einmal lebhaft erwachte Liebe Gabriels zu Gretta. Langsam entschwindet Gabriels Seele „in eine graue ungreifbare Welt“, und „die … Welt …, die sich diese Toten einstmals erbaut … hatten, löste sich auf und verging.“

Joyces Novelle über die eingetrocknete Dubliner Gesellschaft zu lesen, ist ein Vergnügen. Doch es geschieht: nichts. Man fragt sich, wie aus einem solchen Stück Literatur Theater werden soll. Barbara Frey beantwortet diese Frage auf ihre Weise. Es geschieht: noch weniger. Stattdessen liest die Regisseurin die Musikalität der Sprache aus dem Text heraus. Sie reichert den Text durch wunderhübsche Lieder an: Elisa Plüss singt ein wunderschönes irisches Volkslied von einer scheiternden, wohl auch nicht standesgemäßen Liebe; die „Dubliners“ dürfen nicht fehlen („Lord of the Dance“), Jürg Kienberger klimpert am Klavier „Blue Spanish Eyes“ und Schostakowitsch, und von Leonard Cohens „Take This Waltz“ haben wir ja schon zur Genüge geschwärmt. Große Teile des Textes werden chorisch gesprochen, manchmal im Singsang, manchmal kanonartig. Insbesondere die skurrilen Aufzählungen und Bemerkungen werden nach langer Zeit plötzlich - gekürzt - wiederholt. So verwandelt Frey den Text in eine Partitur; ansatzweise entsteht so etwas wie ein Wortkonzert oder ein Oratorium. Diese Wirkung wird unterstützt durch die Einschübe vor allem von Textteilen aus Finnegans Wake mit seinen kuriosen Wortschöpfungen und Verballhornungen. (Ganz nebenbei schlägt Frey durch die Kombination des leicht lesbaren, verständlich und konventionell erzählten Dubliner-Textes mit Ulysses und dem der experimentellen Literatur zugehörigen Finnegans Wake einen eleganten Bogen vom Früh- zum Spätwerk des irischen Autors.) Oft glaubt man Einflüsse von Christoph Marthalers langsamen, skurrilen, melancholischen Inszenierungen zu erkennen; insbesondere bei den Anleihen, die Frey bei Finnegans Wake nimmt, denkt man gar an Dylan Thomas, auch wenn der eine ganz andere Gesellschaftsschicht besingt.  

Der Rezeption einer linearen Geschichte hilft diese Inszenierungsweise allerdings nicht. Den alten Architekten-Grundsatz „Form follows Function“ lässt Frey willentlich außer Acht. Die Regisseurin setzt kompromisslos auf die Form: auf die Kombination von Rhythmus (d. h. Musikalität) und Literatur. Ob daraus Theater wird, muss jeder Zuschauer für sich entscheiden. Es ist jedenfalls ein vollkommen politik- und aggressionsfreies Theater (und das hat der Schreiber dieser Zeilen, sonst ein Anhänger politischen Theaters, zur Abwechslung einmal mit Dankbarkeit zur Kenntnis genommen). Die zwei Stunden werden mächtig anstrengend; insbesondere in der zweiten Stunde, als die wenige Handlung, die in Joyces Text steckt, sich eigentlich ein wenig zuspitzt, hat der Abend erhebliche Längen. Aber immer wieder wird die Geduld des Zuschauers belohnt durch wunderbar wehe Klänge, durch traumschöne Sätze - und vor allem in der ersten Stunde durch den hintergründigen, bisweilen fast schamhaft versteckten Humor, der in den Aufzählungen steckt, in den merkwürdigen Tischreden, in den verschrobenen Lästereien über Politik und Gesellschaft. Irgendwo versteckt gibt es in den Städten unseres Landes heute noch Salons, in denen diese Art gesellschaftlichen Lebens noch gepflegt wird. Und manchmal erfasst sie einen noch, diese Atmosphäre aus Melancholie und Todessehnsucht, für die Barbara Frey zurecht langen Applaus bekam: There’s a shoulder where death comes to cry….