Die Physiker im Schauspielhaus Düsseldorf

Verwandeln wir uns in Verrückte: gefangen, aber frei

Wer Die Physiker von Dürrenmatt kennt, eines der meistgespielten deutschsprachigen Theaterstücke seit der Erstaufführung in Zürich 1962, der könnte eine psychiatrische Anstalt auf der Bühne erwarten, die Villa Les Cersieres, ein „verlottertes Irrenhaus, das vor blauen Bergen steht“. Doch weit gefehlt!

Vor dunklem Hintergrund hüpfen über drei große Projektionsflächen scheinbar muntere weiße Kaninchen, später auch weiße Mäuse, alle bei genauem Hinsehen jedoch eingesperrt in Laborkäfige. Was lustig aussieht, scheint nur so, ganz im Sinne der Dürremattschen Komödientheorie, die stets die schlimmst mögliche Wendung einfordert und wie zufällig beim Gegenteil des geplanten Ziels, beim Paradoxon landet. Und so entpuppen sich nicht nur die hübschen Tierchen als Versuchskarnickel, sondern auch die „Komödie in zwei Akten“ als groteske Tragikomödie. Zum besseren Verständnis fügte der Autor seine Theorie in „21 Punkten zu den Physikern“ seinem Stück als Anhang bei - und das macht auch das Düsseldorfer Schauspielhaus im Programmheft.

Dazu passt, dass - bevor wir von Weltzerstörungsformeln und Frauenmorden hören - zunächst die Live-Musikerin Lila-Zoé Krauß mit kraftvoller Stimme und Synthesizer unter flirrenden Lichteffekten so gute Laune verbreitet, dass es Szenenapplaus gibt.

Dann Spot on: gespielt wird auf der Vorderbühne und oben über den Videowänden, die als Front hoher Podeste erkennbar werden. Während darauf performt wird, laufen während der gesamten Spieldauer die Videos weiter: mal als Subtext kommentierend oder ironisierend, mal als dekorative Untermalung passend zum sphärisch-gespenstischen Elektrosound, mal mit Bildern oder Filmsequenzen zum Geschehen, jedoch ganz ohne Live-Kamera.

Dann erscheinen die sechs Akteure, alle in Weiß (!), ununterscheidbar ob Patient oder Personal, manche wechseln vom einen zum anderen im Laufe des Abends. Allerdings gibt es in der „Villa“ überhaupt nur drei Patienten, drei Physiker, doch wie wir sukzessive erfahren, sind alle drei Simulanten: zunächst das Genie Johann Wilhelm Möbius, der eine Formel zur Welt-Zerstörung entdeckte und um diese vor falschen Händen und Geistern zu schützen, Wahnvorstellungen vorgibt. Kilian Ponert gibt ihn lässig, schlaksig als Junggenie, so gar nicht professoral, jedoch immer wieder hart an der Grenze zur Enttarnung. Die beiden Kollegen wurden ausgebildet und eingeschleust von den Geheimdiensten feindlicher Mächte, nur zum Zweck, Möbius die Formel abzuluchsen. Sie geben vor, sich für Newton und Einstein zu halten. Rainer Philippi markiert als Newton den eingebildeten Gelehrten, während Cathleen Baumann höchst komödiantisch eine Einstein-Karikatur liefert. Sich mehr oder weniger zur Kunstfigur verrenkend, kann sie darauf verzichten, dem Publikum die Zunge rauszustrecken. Alle drei Nicht-Verrückten morden ihre Pflegerinnen, als diese sich verlieben und die Verstellung erkennen. Da kommt Kriminalinspektor Richard Voß ins Spiel, den Thiemo Schwarz als schwächlichen Subalternen gibt, der alles durchgehen lässt, was eine Aufklärung verhindern kann. Die Argumentationen sind simpel: für die Täter ist es nicht Mord, sondern Opfer für die Wissenschaft und Welterhaltung. Für die Chefin des Hauses sind die Herren nicht Mörder, sondern Kranke. Beinahe folgerichtig, dass der Inspektor in die Villa einzieht, offiziell als schlagkräftiger Pfleger.

Über dem Ganzen schwebt die Strippenzieherin und Chefin, Doktor von Zahnd. Von Anfang an postiert Regisseur Robert Gerloff sie an höchster Stelle (ganz konkret) und nicht, wie von Dürrematt vorgesehen, als buckeliges Fräulein eher unsichtbar. Claudia Hübbecker gibt die Herrin in schickem weißen Overall mit zu Berge stehendem Blondschopf cool souverän. Selbst wenn Sie am Ende vermutlich die einzig wirklich Geisteskranke ist, nimmt man ihr ab, dass sie alles eingefädelt und die Formel längst an sich gebracht hat. Gespenstig strahlend personifiziert sie die „schlimmst mögliche Wendung“ (Punkt 03!): eine Wahnsinnige gründet einen weltumspannenden Konzern mit der Vernichtungsklausel in der Hand.

Die nächste Generation lässt Robert Gerloff nur noch als erstarrte Figuren aus vergangenen Zeiten im Video auftreten, die grotesk automatisch wie Aufziehpuppen reagieren und im Nichts verschwinden. Ein Slapstick als böses Omen.

Gerloff verzichtet auf Aktualisierung durch Verweise auf heutige Bedrohungen. Das Lachen bleibt uns auch bei dem (klug gestrichenen) Originaltext im Halse stecken und das Gruseln ist zeitlos wie die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft und Forschung. „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, und doch „muss alles Denkbare gedacht werden“. Dürrenmatt verpackt diese Erkenntnis in eine schaurige Groteske, die Gerloff mit einem spielfreudigen Ensemble und tollen Team bild- und spielstark auf die Bühne und ins Heute bringt.

Die Truppe verschwindet, wie sie gekommen ist: mit Gesang und Tanz.