Übrigens …

Orpheus steigt herab im Schauspielhaus Düsseldorf

Freigeist in der Enge von Stadt und Regie

Eine Kleinstadt im Süden der USA. Reaktionär, rassistisch, sexistisch, bigott. Kitt und Sollbruchstelle der städtischen Gemeinschaft ist ein Verbrechen, von dem (fast) jeder weiß, über das aber niemand spricht: Vor vielen Jahren haben Männer der Stadt den Weingarten von Lady Torrances Vater abgefackelt und – wohl nicht ganz zufällig – den Vater gleich mit den Flammen übergeben. Er, der Itaker, war eh nicht der ordentliche Vertreter der White Anglo-Saxon Protestants, dessen Leben man hätte schonen müssen. Sein Verbrechen aber war nicht, dass er zur Zeit der Prohibition illegal Alkohol gebrannt und verkauft hat, sondern dass er den Sprit auch an Schwarze ausschenkte. - Lady Torrance will nun ihrem Vater ein Denkmal setzen und eine Konditorei eröffnen, die an den Weingarten ihres Vaters erinnert. Ein wenig Freiraum zur Selbstentfaltung könnte sich in der frauenfeindlichen Gesellschaft für sie auftun, denn ihr Mann Jabe liegt im Sterben. Dass Jabe einer der Drahtzieher bei der seinerzeitigen Brandstiftung, die zum Tod ihres Vaters führte, war, mag Lady ahnen – als sie Gewissheit darüber erhält, stachelt das ihren Ehrgeiz an: Jabe soll ihren Triumph und das Gedenken an ihren Vater noch miterleben.

 In diesen grauenvollen Kleinstadt-Mief steigt Orpheus herab. Der heißt Valentine Xavier (kurz Val), und man könnte ihn als Hippie bezeichnen, spielte das Stück nicht in den 1950ern, als es diesen Begriff noch nicht gab. Seine Lyra ist die Gitarre, die er sich von Chuck Berry und anderen Größen des Rock ’n‘ Roll hat signieren lassen. Val will mit der ganzen Kleinstadt-Mischpoke nichts zu tun haben. Der frühere Stricher aus New Orleans will sich hier ein neues, seriöseres Leben aufbauen und bei diesem Vorhaben in Ruhe gelassen werden. Doch die Herzen der meisten Frauen fliegen ihm zu, die Männer wollen ihm an den Kragen, und als der moderne Orpheus sich einmal umdreht (sprich: aus Rücksichtnahme auf Lady oder aus erwachender Liebe zögert, die Stadt rechtzeitig zu verlassen), ist sein Schicksal besiegelt. Und das seiner Eurydike auch…

 Tennessee Williams soll sich mächtig gequält haben mit dem 1957 erschienenen Drama. Eine frühere Fassung war bereits durchgefallen. In Deutschland wurde Sebastian Nübling mit seiner Inszenierung von den Münchner Kammerspielen im Jahre 2012 zum Berliner Theatertreffen eingeladen; in NRW ist eine Inszenierung des verstorbenen Regisseurs Werner Schroeter am Theater Oberhausen aus der Spielzeit 2000/01 erinnerlich. Ansonsten macht sich das Stück rar auf deutschen Bühnen. Es sei zu durchsichtig, wird ihm vorgeworfen, zu sehr Schwarz-Weiß. Tatsächlich weiß man von der ersten Minute an, wer die Guten und die Bösen sind. In Düsseldorf gelingt es nur Lou Strenger, die Einordnung ihrer Carol Cutrere in eine dieser Kategorien für eine Weile in der Schwebe zu halten. Aber vergleicht man das Stück mit Tennessee Williams‘ Bestsellern Endstation Sehnsucht, Die Katze auf dem heißen Blechdach oder Die Glasmenagerie, so sind die Themen von Orpheus eigentlich aktueller: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie das Empowerment des weiblichen Geschlechts haben im gesellschaftlichen Diskurs schließlich Hochkonjunktur. Der auch vor radikalen Verletzungen von Rechtsordnung und Demokratie nicht zurückschreckende Trumpismus in den USA liegt noch nicht lange zurück (und beherrscht noch heute das Denken und Wünschen in vielen republikanischen Köpfen), und wenn Sheriff Talbott mit seinen Kumpanen den Hoffnungsträger der Liberalität Val brutal zusammenschlägt, denkt man automatisch an den Fall George Floyd. Andreas Grothgar, ein Sheriff alten Schlages, der Filmen aus der Entstehungszeit des Dramas entsprungen scheint, muss dafür am Düsseldorfer Schauspielhaus gar nicht die im Wortsinne atemberaubenden Aktionen des Polizisten Derek Chauvin nachstellen.  

 Doch Regisseur David Bösch hat mit Aktualisierung und politischer Zuspitzung nicht allzu viel im Sinn. Er inszeniert weitgehend werktreu und ist damit angesichts eines eher redseligen, konventionell gebauten Stücks aus den 1950er Jahren nicht allzu gut bedient. Eine Stunde lang glaubt man sich in ein Theater der 1960er Jahre versetzt und erlebt ein brav vom Blatt gespieltes Familien- und Kleinstadt-Gesellschaftsdrama ohne unmittelbar über die Figuren hinausgehende Relevanz. Konflikte werden eher kleingespielt, die politische Brisanz der Themen wird kaum sichtbar. Welche Provokation der Hippie und Freigeist Val für die engstirnige, reaktionäre Stadtgesellschaft bedeutet und warum er für die Frauen der Stadt eine Hoffnung auf Erlösung aus Enge und Unterdrückung darstellt, wird bis zum Schluss nicht deutlich. Val Xavier wird einmal gefragt, ob sich sein Hausname mit -S- schreibe: Tatsächlich klingt „Xavier“ fast wie „Saviour“ – der „Erlöser“. Aber dem zurückgenommen und eher depressiv spielenden Sebastian Tessenow nimmt man eine Erlöser-Rolle zu keinem Zeitpunkt ab.

 So schnurrt denn die Aufführung eine Stunde lang ereignislos und wenig inspiriert vor sich hin. Und doch hält sich die Langeweile in Grenzen, denn Bösch kann auf ein auch in dieser ersten von zwei Stunden bereits brillant aufspielendes Ensemble zurückgreifen. Großartig zu beobachten ist insbesondere, wie individuell die „Guten“ des Stücks mit ihrer Ausgegrenztheit, ihrer Verzweiflung und ihrer unterdrückten Lebensgier umgehen. Sonja Beißwenger gibt eine in sich verkapselte Lady Torrance, die ihre Emotionen und ihre Weiblichkeit zu unterdrücken versucht und sich in burschikoses Auftreten und permanente handwerkliche Arbeit flüchtet: Sie und nicht ihr zynisch-sadistischer, kranker Gatte Jabe (Thomas Wittmann) ist längst der „Mann im Haus“, aber Anerkennung findet sie in der patriarchalischen Gesellschaft nicht. Sebastian Tessenow, der Fremde, sucht Schutz, indem er krampfhaft Abstand hält von der ganzen Mischpoke und Gefühle nur gegenüber seiner Gitarre zeigt. Als Lady und Val später Zerbrechlichkeit und Gefühle offenbaren, sind sie verloren. Friederike Wagner gibt die bedauernswerte Frau des Sheriffs als scheinbar verschrobene, esoterische Tucke. Doch die Malerin hat viel mehr mitbekommen als sie zu erkennen gibt: Ihre traumatischen Erlebnisse drückt sie verklausuliert in ihrer Kunst aus. Anchor Person für das Publikum aber ist – neben der großartigen Sonja Beißwenger – Lou Strenger als grandios aus dem Ruder gelaufenes Partygirl Carol Cutrere – „a lewd vagrant“, wie es in Sidney Lumets Verfilmung von 1960 heißt. Überkandidelt, durchgeknallt, gekleidet in dem, was man in unseren Breiten früher als Duisburger Chic bezeichnete, ist sie inzwischen wohl auch psychisch krank. Die lebenshungrige, aber schon früh verlebte Schickse widersetzt sich jeder bürgerlichen Konformität und hat längst Stadionverbot im gesamten Stadtraum, was sie aber nicht minder offensiv ignoriert als die echten Stadionverbotler in der Schauinsland-Reisen-Arena. Schnell erkennt man die unendliche Verzweiflung, aus der dieses Verhalten resultiert: Sie wirft sich den Männern in den Arm und bekennt doch: „Liebe machen ist für mich schmerzhaft und unerträglich.“ Doch „für einen kleinen Moment nicht allein zu sein, … das wiegt diesen Schmerz auf.“

 In der zweiten Stunde zieht die Spannung der Inszenierung an. Ausgelöst wird dies ausgerechnet durch den Auftritt von Florian Lange in einer kleinen Nebenrolle: Er ist David Cutrere, Carols Bruder, und die treibende Kraft hinter der Verbannung seiner Schwester aus der Stadt, bullig und wie fast alle Männer des Stücks unsensibel. Doch als er von der einstigen Schwangerschaft seiner großen Liebe Lady erfährt und Lange und Beißwenger ausschließlich durch sensible Mimik die nicht verheilten Wunden einer großen Liebe ausdrücken, spürt man erstmals wirklich die existenziellen Nöte der Menschen in der engen, bigotten Gesellschaft. Das Eis ist gebrochen, die Verkapselungen schützen nicht mehr.

 Der Schluss ist fulminant. Er wird nicht verraten. Die durchgeknallte Carol jedenfalls, die als einzige den linearen Erzählfluss durchbricht und sich ab und zu mit dem Publikum anlegt, ist die hellsichtigste unter allen Figuren der Inszenierung. „Don’t hope for the day when your sorrows end“, hatte sie schon früh geraten: „Because it will be the day when you are dead.“